REMAINDER: Auf den Kopf gefallen

 

Amnesie nach dem Unfall. Ein Mann (Tom Sturridge) erwacht aus dem Koma, kurz darauf hat sein Anwalt achteinhalb Millionen Pfund Schmerzens- und Schweigegeld für ihn ausgehandelt. Tom überlegt kurz, dann unterschreibt er. An das, worüber er schweigen soll, kann er sich ohnehin nicht erinnern. Kein schlechter Deal.

Doch dann sind da die seltsamen Rückblenden, Fragmente aus Bildern, Klängen und Gerüchen, schwer zuzuordnen, Bedeutung unklar, ebenso wie die Tatsache, daß Tom einige Dinge zu wissen und wiederzuerkennen scheint, die keiner sonst bestätigen kann. Die maximale Verwirrung liegt beim Zuschauer, der weder die Leute kennt, mit denen Tom angeblich bekannt ist, noch substanzielle Hinweise auf dessen Vergangenheit bekommt. Die Obsession des Protagonisten, sich aus allem einen Reim zu machen, nimmt derweil bizarre Ausmaße an: Er kauft ein mehrgeschossiges Stadthaus und heuert einen Manager namens Naz (Arsher Ali) plus Crew an, um darin tagein, tagaus Szenen aus seinem vernebelten Hirn nachzustellen in der Hoffnung, seiner verlorenen Vergangenheit damit näherzukommen.

Schnell wird aus dem einstigen Mystery Plot ein skurriler Film im Film. Tom, der Regisseur, erweist sich als skrupelloser Perfektionist, dessen bloße Rollenbeschreibungen an seine Schauspieler schmunzelerregend überzogen wirken, während Naz ihm als ausführender Produzent jeden Wunsch erfüllt. Der Produktionsaufwand steigt und steigt, und bald fragt man sich, wieviel achteinhalb Millionen Pfund nochmal genau wert sind.

Es ist diese Inszenierung einer Inszenierung, die REMAINDER seine Originalität verleiht und die ansonsten nicht so ungewöhnliche Handlung trägt. Das Regiedebüt von Omer Fast verweigert letztlich eine klare, chrono- und logisch nachvollziehbare Erzählung zugunsten eines verschachtelten Kommentars über den filmischen Produktionsprozeß selbst. Eine Wertung desselben fehlt jedoch ebenso wie jede schlüssige Aussage, die eine Geschichte über Erinnerung mit sich bringen könnte.

Am Ende weiß man nicht so recht, ob der Koffer voller Geld oder alles nur ein Traum war. In seiner minimalistischen Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Anstoßpunkt der Handlung zugunsten seines abstrakteren metanarrativen Überbaus lädt REMAINDER aber kaum zu wilden, nachhaltigen Spekulationen über die Bedeutung von Allem ein und wird nach einmaliger, wenngleich unterhaltsamer Sichtung wohl alsbald.... vergessen.

CROSSCURRENT: Der Flussflüsterer

 

Lyrik, das schreibt man in China groß. Doch wie macht der Chines' das bloß - ganz ohne Alphabet? Yang Chao zeigt, wie's geht. In Peking studiert der Mann Regie; allein zum Autor reicht es nie. Er mag es schwurbelig und prätentiös. Halb so schlimm; er meint's nicht bös.

So unnötig und angestrengt wie obige Poesie ist das, womit Yang Chao seine Bilder in CROSSCURRENT (Chang Jiang Tu) anreichert: Aus Off-Stimme und Bildschirmtext durchkreuzen metaphysisch geladene Plattitüden die ansonsten ganz beschaulichen Bilder.

Zu sagen, es gehe um nichts, heißt, den Film verstanden zu haben. Der junge Kapitän eines völlig verrosteten Frachtschiffs (Hao Qin) fährt den Jangtse hinauf, liest dabei die Verse eines unbekannten Dichters und halluziniert eine Frau (Zhilei Xin), seine große Liebe, die sich in der Zeit rückwärts bewegt und ihm an mehreren Stationen seiner Reise begegnet. Alles weitere ist scheinphilosophische Grütze, die sich nur auserkorenen Geistern zugänglich macht. Im gefühlten Gletschertempo schreitet die Nicht-Geschichte voran, so daß man fälschlicherweise zu dem Schluß kommen könnte, der Jangtse flösse nun mal nicht schneller.

Filme ohne echte Dramaturgie gehen in Ordnung. Filme ohne wirkliche Charaktere haben es schon schwerer. Dann kommt es auf die Inszenierung, auf Stimmungen an. Chao gelingen auch eine Reihe wirklich beeindruckender und stimmungsvoller Aufnahmen, von arborealen Ufern, kahlgeschwemmten Dörfern und dem Drei-Schluchten-Damm. Schade ist, daß das viele Gesülze von einer ansonsten ganz ansehnlichen Landschaftsdoku entlang Chinas mächtigsten Flusses ablenkt. Innerhalb von knapp zwei Stunden wäre aus einer echten, tatsächlich dokumentarischen Form mehr gewonnen.

HUMIDITY: Schweiß und Tränen

 

Mina ist verschwunden! Petar (Miloš Timotijević) ist die Frau davon, einfach so, über Nacht. Ihr Handy ist aus. Er weiß zwar nicht, was los ist, verheimlicht Freunden und Familie aber ihr Verschwinden und erfindet Ausreden, warum Mina hier und da nicht erscheinen kann. Derweil geht das Leben des bourgeoisen BWL-Schnösels weiter seinen Gang; er wird befördert, flirtet mit Frauen und suhlt sich im Konsum. Doch etwas ist durcheinandergeraten. Bedrohlich schwelt die Tonspur um Petars immerfeuchte Stirn.

Nikola Ljucas HUMIDITY (Vlažnost) ist gleichsam das Portrait einer Gesellschaft und einer Beziehung, wobei das Eine der Schlüssel zum Verständnis des Anderen ist. Leicht überzeichnet mag die Darstellung einer dekadenten Belgrader Oberschicht sein, die immer einen Hauch von Generationskritik transportiert. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht spezifisch genug, um einen dokumentarischen Anspruch erheben zu können und sich dem Zuschauer als typisch serbisch zu offenbaren. Man kennt oder vermutet die Existenz solcher sozioökonomischer Kreise bereits von anderswo und hat als Normalverbraucher vermutlich auch schon einen robusten Ekel gegen dergleichen entwickelt.

Somit fällt es leicht, Fluchtgründe auf die abwesende Mina zu projizieren. Dies bleiben jedoch Projektionen, denn letztlich ist auch die Entlaufene Teil dieses Milieus, in welchem sich ein zunehmend entnervter Petar auf eine aussichtslose Sinnsuche begibt. Es steckt eine gewisse Genialität in einem Skript, das den Status einer Beziehung in Abwesenheit einer Hälfte seiner Beteiligten untersucht - eine Abwesenheit, die zu jeder Minute spürbar ist und mit dem Gewicht eines nagelneuen Autos auf die Scheinnormalität im Leben des Zurückgebliebenen niederdrückt.

Nach diesem Satz fürs Feuilleton sei noch eben angemerkt, daß es sich schon wieder um ein vielversprechendes Langfilm-Regiedebüt handelt, klares Geheimthema der diesjährigen Berlinale. Als Bonus kommt das Ganze diesmal aus Serbien, woher man ja noch nicht so viele Filme kennt, doch Ljuca dämpft sogleich die Freude und versichert, seiner sei ganz anders als die anderen. Und natürlich hängt ganz viel an der zentralen Performance des erfahrenen Timotijević, der Petar so facettenreich verkörpert, daß er dabei die moralische Deutungshoheit über seinen Charakter niemals ganz an den Betrachter abgibt.

Klug geschrieben, sauber produziert und hervorragend gespielt ist diese kleine Geschichte, in der letztlich nicht viel passiert. Wer bei HUMDITY das Ende im Voraus erahnt, hat das seltene Glück, dabei nicht die Enttäuschung eines schwachen, vorhersehbaren Drehbuchs zu erfahren, sondern die Stärke einer konsequent durchexerzierten Parabel.

LES PREMIERS, LES DERNIERS: Messias im Praktikum

 

Nebel liegt über den Dörfern, wilde Tiere bevölkern verlassene Betonruinen. Harte Linien aus Straßen, Brücken, Mauern zerschneiden das entsättigte Bild. Ihnen entlang bewegen sich die Akteure in Bouli Lanners' genreübergreifender Elegie um den Wert des Lebens. Der Drehort südlich von Paris wirkt weit abgeschlagen, nicht zuordnungsfähig, wie von einem unentdeckten Kontinent.

Willy (David Murgia) und Esther (Aurore Broutin), ein vom televisionär angekündigten Weltuntergang aufgeschrecktes Pärchen, pilgern durch diese nordfranzösische Landschaft, die durch Jean-Paul de Zaetijds Kameraarbeit eine entrückte, träumerische Note erhält. Ihr Ziel bleibt lange unklar, doch sicher ist, daß sie nicht Teilnehmer des normalen gesellschaftlichen Lebens sind. Sie übernachten unter Brücken und in Containern, klauen, um sich zu ernähren. Ebenfalls hier unterwegs sind der leicht suspekte Tagelöhner Cochise (Albert Dupontel) und sein Sidekick Gilou (Bouli Lanners selbst), auf der Suche nach dem gestohlenen Mobiltelefon ihres Auftraggebers. Klar, daß sich aller Wege dereinst kreuzen werden. Vervollständigt wird das Figurenensemble von einer Selbstjustiz übenden Lageristen-Gang, einem altersschwachen Hotelier, einer buchstäblichen MILF, sowie Jesus selbst.

Es gibt viel bemerkenswertes an LES PREMIERS, LES DERNIERS. Die wunderbare Fotografie und allgemein hohen Prdouktionswerte sind nur der glanzvolle Finish. Darunter steht ein starkes Gerüst aus Drehbuch und darstellerischer Leistung, das positiv an strukturell vergleichbare Werke der Coen Brothers et al. erinnert. In seiner breiten Besetzung ergänzen sich mehrere zentrale Darbietungen, anstatt miteinander zu konkurrieren. Die Erzählstränge laufen eine Weile parallel, kreuzen sich dann, verzwirbeln sich zu Knoten, um sich schließlich auf überraschende und zutiefst befriedigende Weise wieder aufzulösen. Momente des Ahas kommen nicht zu kurz in diesem behutsam konstruierten, vollreifen Skript und sind mit solchen aus Humor, Gewalt und einfühlsamer Introspektion in bester Gesellschaft. Potpourri nennt man das wohl, weil Frankreich.

Wo genau sich das Geschehen zuträgt, bleibt indes bewußt unerwähnt. Auffällig amerikanisch wirken allerdings viele der Versatzstücke: Die Architektur eines Diners, eines Landhauses, eine einsame Tankstelle inmitten scheinbar endloser Landstraßen - lauter Dinge, die es in Frankreich natürlich wirklich gibt, aber gemeinhin im Film nicht so betont inszeniert werden. Untypischer ist da schon die Tatsache, daß jeder zweite eine Schusswaffe besitzt.

Teils Roadmovie, teils Western, teils schwarze Komödie mit einer guten Portion charakterbetriebenem Drama - ungemein entscheidend dafür, daß alles so perfekt ineinandergreift, ist Timing, mehr noch als sonst. Lanners, der hauptberuflich ja Schauspieler ist, weiß genau, wieviel Zeit er seinen Episoden, Dialogen und Augenblicken der Andacht einzuräumen hat. Die Schlüsselrolle im emotionalen Kern des Films übernimmt er selbst: sein Gilou, geplagt von Herzproblemen, entkoppelt sich für eine Weile vom narrativen Fluß, um den eigenen Tod zu reflektieren und sich seines Standes in der Welt wieder bewußt zu werden. So surreal die Wirklichkeit von LES PREMIERS, LES DERNIERS zuweilen anmutet, so real, nachvollziehbar und empathisch sind die Menschen, die sie bewohnen.

LAS PLANTAS: Hosen runter, Schwanzvergleich

 

Auch das ist Feminismus: Ein erigierter Penis erscheint auf der Leinwand und wird masturbiert. Es wird nicht der letzte sein. Und das ist auch gut so. Denn warum soll nackte Haut im Kino auf weibliche Reize für heteronormative männliche Zuschauer beschränkt sein?

Herbeigerufen werden die Gemächte von der jungen Florencia (Violeta Castillo), deren bisheriges Hobby es ist, mit Schulkameraden als Animemädchen verkleidet auf die chilenische Comic-Con zu gehen, auf der geschlechtlich getrennte Umkleidekabinen, oder überhaupt richtige Umkleidekabinen, noch nicht angekommen sind.

Für Florencia ist das aber nur eine Gelegenheit, sich leicht bekleidet anstarren zu lassen. Denn schon vorher beschließen sie und ihre Kumpels, den Webcamwichser, mit dem sie chatten, zu sich einzuladen. Er wohnt nämlich ganz in der Nähe. Man beschnuppert sich durch eine gläserne Zwischentür, lässt es aber nicht eskalieren. Jedenfalls noch nicht. Und es gibt ja noch andere Männer zu mustern.

Der im Titel angedeutete botanische Aspekt rührt daher, daß Florencia den Comic Las Plantas zu lesen beginnt, in dem Pflanzen in der Nacht die Körper von Menschen übernehmen. Wie genau das funktioniert, wird im Film nicht näher erläutert, das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist die Symbolik. Florencias Bruder ist ebenfalls eine Pflanze bzw. Wachkomapatient, was Florencias Frage motiviert, ob Pflanzen wohl auch Gefühle haben und ihre Umgebung wahrnehmen können. Außerdem liegt Mutti mit uneindeutiger Prognose im Krankenhaus. Da dies natürlich ein gewisser Einschnitt (Gärtneranalogie) in die freie Lebensgestaltung ist, ist es nicht verwunderlich, daß man als Teenie ersatzweise im Libidobereich das Außergewöhliche sucht.

Neben diesem sexuellen Erwachen zeigt LAS PLANTAS auch andere Formen der Intimität. Ihren Bruder muss Florencia baden und ihm die Windeln wechseln, aber er dient auch als liebevolles Kopfkissen beim Comic Lesen. Entscheidend für die fesselnde Wirkung des Films ist, daß er nicht moralisieren will oder den erwachenden Fetisch der wahren Liebe gegenüberstellt. Es geht um Gefühle, die man nicht wirklich versteht, um die Frage, ob die Verzahnung von Genitalien im Sexualleben das Wichtigste ist. Das alles wird vor allem von Violeta Castillos Mimik zusammengehalten, im ständigen Wechsel zwischen frustriert, frech und freizügig.

LAS PLANTAS (Regie: Roberto Doveris) kommt aus Chile, könnte aber überall spielen, wo die Webcam-Technologie ausreichend fortgeschritten ist. Diese verzogene Jugend ist halt überall gleich. Aber man schaut ihr gerne bei ihren Untrieben (sick (sic)) zu, wenn sie so gut dirigiert und abgelichtet wird. Oder auch nicht; es ist ein Nachtfilm. Und gelegentlich eben auch ein Nacktfilm. Und wenn es der Story dient, kann man da auch als seriöser Filmkritiker befriedigt aus dem Saal gehen. Intellektuell natürlich.

THE WORLD OF US: Auf der Suche nach dem Konfliktlaotse

 

Boah, Kinder. Was haben die schon für Probleme? Den ganzen Tag spielen sie, raufen sich und machen Quatsch. Und dann jammern sie, wenn sie zwischendurch auch mal ein bißchen was lernen sollen. Gut, im Leistungsdruckland Südkorea kann das auch mal etwas mehr sein, z.B. der ganze Tag, jeden Tag. Doch auch wenn Jia zur Nachhilfeschule gebracht wird, um Klassenbeste zu bleiben und die Außenseiterin Sun ihr alsbald dorthin folgt, bleibt noch eine Menge Zeit für Albereien. Nein, den Schülerinnen in THE WORLD OF US (Woorideul) geht es eigentlich ganz gut.

Ein Schuljahr endet, und die von ihren Klassenkameradinnen geschmähte Sun ist die erste, der die frisch herversetzte Jia begegnet. Endlich eine Freundin! Gemeinsam verbringt man einen großen Teil der Sommerferien, lernt einander kennen. Doch als das neue Schuljahr beginnt, trifft Sun unweigerlich wieder auf ihre doofen Mitschülerinnen, die sich ebenfalls für die beeinflussbare Neue in der Klasse interessieren. Klar, daß da nur Streit bei rauskommt.

Belebt wird die Welt von Sun und Jia von einem Ensemble aus Eltern, Rivalinnen und Lehrern, die sich in aller Kürze Ihrer Auftritte immer real anfühlen, auch wenn ihre dramaturgische Funktion meist ziemlich offenbar ist. Das geht in Ordnung angesichts vieler kleiner, kluger Einschübe der Einsicht und des Humors, die aus diesen Interaktionen entstehen. So sehr das Drama die kindlichen Beziehungsgeflechte dominiert, bleibt am Ende doch ein wohliges Gefühl der Versöhnlichkeit über.

Regisseurin Ga-eun Yoon macht in THE WORLD OF US wieder erfahrbar, was dem Erwachsenen gemeinhin total banal ist - die Dynamik von Kinderfreundschaften und wie sie das Gefühlsleben der Kleinen beherrschen. Weil es ein Kinderfilm ist, sind die narrativen Mittel natürlich einfach gewählt, aber nie plump. Ganz im Gegenteil bestechen Momente der Klarheit, wie sie nur eine kindliche Perspektive bieten kann, die sich ihrer nicht bewußt ist.

Der anhaltende Strom frischer Talente aus dem südkoreanischen Landzipfel ist immer wieder bemerkenswert. Fakt: Koreaner gewinnen dauernd Kurzfilmpreise auf der Berlinale. Yoon gewann 2014 mit dem Kinderkurzfilm Sprout, hat jetzt einen ersten, starken Langfilm vorgelegt und aus rund 1000 Bewerberinnen die sehr überzeugende Soo-in Choi für ihre Haupfigur Sun gewählt, auch sie ohne vorherige Schauspielerfahrung, aber mit beachtlicher Reife. Am Ende greift alles ineinander. Zwei Jahre hat Yoon an der Geschichte gefeilt. Es hat sich gelohnt.

AGONIE: Was ist eigentlich Agonie?

 

Viele sind verunsichert, wenn ich diese schwierige Thema anspreche. Keiner lacht. Geekelt schreckt man zusammen, wenn die Knochensäge ertönt. Warum sticht ein Mädel auf ihre Mutter ein? Ö3 Hitradio wird nicht müde, die Frage zu stellen, kennt aber die Antwort nicht. Stattdessen Musik. Christian (Samuel Schneider) hört das. Er ist unzufrieden, weil sein Jurastudium beschissen läuft. Oder ist das überhaupt der Grund?

Filme gaukeln uns vor, uns in eineinhalb bis zwei Stunden mit Charakteren so vertraut zu machen, daß wir deren Leid und Freud nachvollziehen und behaupten können, sie verstanden zu haben. Das ist natürlich völliger Quatsch. Die Erfahrungen, die Momente, an denen wir teilhaben, sind behutsam gefiltert, unsere Perzeption gelenkt, das emotionale Urteil schon vorgeschrieben. Die Rolle des Zuschauers ist die Aufnahme.

AGONIE macht sich spürbar, erklärt sich aber nicht. Sie ist einfach da. Eine Darstellung des Zustands fällt leicht. Alex (Alexander Srtschin) beispielsweise ist reizbar, hört Hiphop und disst seine Ex in eigenen Rhymes. Die alte Schlampe. Ein Gewaltpotenzial ist gegeben. Der klassische Unterschichtenversager, der sich seine homosexuellen Neigungen nicht eingestehen kann. Mit dem Vater gibt es auch nur Zoff. Das reicht doch als Charakterisierung?

Die gesamte Geschichte des wie-konnte-es-nur-soweit-kommen paßt natürlich nicht die Laufzeit eines Films; soll sie auch nicht. Wir sollen Alex nicht verstehen müssen. David Clay Diaz entzieht sich in seinem Langfilmdebüt nicht den Erklärungen, sondern macht die Unerklärbarkeit zum Konzept. Ganz explizit der Verweis gleich zu Beginn, wie in der Motivfrage - Kontext Mord - Rat und Tat abhanden gehen. Ein Fall von familiärer Gewalt ist ständiges mediales Hintergrundrauschen im bedrückend freudlosen Leben der Protagonisten. Wenn Christian seine neue Freundin nach allen Regeln des Maschinenbaus durchnimmt, darf man sich schon fragen, warum sie es sich ausgerechnet von ihm besorgen läßt. Vielleicht, weil er zumindest von außen nicht komplett häßlich ist.

Alex und Chrtistian, die zwei Charaktere, die hier erzählt werden, laufen sich nicht über den Weg. AGONIE ist nur der thematische Brückenschlag, darüber hinaus sind hier lediglich zwei mittellange Filme abwechselnd ineinandergeschnitten. Um das auch ganz klar zu machen, liegen zwischen ihren Szenen jeweils stille, schwarze Sekunden. So stur ist diese Trennung, daß seltenen Momenten der Überblendung, des fortlaufenden Soundtracks, besondere Auffälligkeit und Wichtigkeit zuteil wird. So wird auch dem geringfügig Kinophilen klar, daß jetzt die Emotion im Busch lauert. Handwerklich ist der Film also zur Abnahme bereit, nur Funfaktor darf man wie immer bei so Betroffenheitskunst natürlich nicht erwarten.

Als Charakterportrait ist AGONIE unvollständig, ein gewollter Schnappschuß und damit nicht so ungewöhnlich, wie es das Getöse im Programmheft eines Filmfestivals glauben lassen mag. Muß es auch gar nicht. Aus der Gegenüberstellung seiner beiden Geschichten tritt Gefühl, Thema und Titel klar und präzise heraus. Sales Pitch erfüllt.