THINGS OF THE AIMLESS WANDERER: Buschomon

 

Eine junge Frau ist verschwunden. Was ist passiert?

Ein Möchtegern-Hemingway (Justin Mullikin), blond und blauäugig, durchstreift den Dschungel Ruandas in Faszination vor dessen Pracht. Auf seiner Fährte, nur in Lendenschurz, der schwarze Mann (Ramadhan Bizimana). Er trägt keine Einkaufstüte, aus welcher karikativer Porree ragt. In seiner Hand ist ein Speer. Er beobachtet, verfolgt, bläst das Kriegshorn. Doch nähern will er sich dem Weißen nicht. Schließlich trifft Hemingway auf Frau (Grace Nikuze). Schnitt.

Eine junge Frau ist verschwunden. Was ist passiert? Drei Hypothesen.

Regisseur und Autor Kivu Ruhorahoza verschweigt lange, worum es eigentlich geht und bemüht sich auf spektakuläre Weise, einen hypnotischen Sog aus Bild und Ton zu kredenzen. Ein Stoß ins Horn, und ein beinahe nahtloser Soundtrack begleitet THINGS OF THE AIMLESS WANDERER bis ins Ziel. Drei Charaktere, drei Geschichten, drei Hypothesen.

Die Frau ist tot - wahrscheinlich. Wie es dazu kommen konnte, wird dreimal erzählt. Jeder kann der Mörder sein. Doch eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Stattdessen neue Fragen und ganz unerwartete Erkenntnisse aus dem gewaltsamen Zusammenprall der Kulturen. Der weiße Schöngeist suhlt sich in oberflächlichen, spekulativen Gedankenwelten, die sein Afrika-Journo ergeben - für ihn die große Mission, welche ihn vom schnöden Journalistentum abhebt. Ein Einheimischer ist mit seinen sexuellen Bedürfnissen im Unreinen. Zwischen beiden steht die Frau, Subjekt der Begierde, selbst zerrissen von heimischer Tradition und christlicher Mission.

Große Teile der knappen Laufzeit von 78 Minuten sind der Form gewidmet, während die eigentliche Erzählung aus wenigen Momenten viel Moment schöpfen muß. Wie immer ist das völlig in Ordnung, wenn jene Form so kunstvoll und überzeugend gefertigt ist wie hier. Es reicht, um dem Film Berechtigung zu verleihen; er ist als nachdenkliches, stimmungsvolles audiovisuelles Erlebnis funktional. Wer tiefer in seine Seele lugt, nimmt Aromen von kulturellem Konflikt und soziologischem Wandel im Herzen Afrikas auf. Anlasten muß man ihm allerdings, daß jene die Schwelle von wohlgehütet zu obskur zu überschreiten nicht drohen, sondern schon weit hinter sich ließen. Als Charakterstück ist er spät im Antritt und kurz im Abgang, doch was da ist, weiß Neugier zu wecken. Etwas schade ist es da, nicht mehr davon zu bekommen - doch womöglich ist es gerade seine Knappheit, die THINGS OF THE AIMLESS WANDERER schließlich wertvoll macht.

RIVERSIDE live: Die alten Männer sind zurück

 

Es passiert mit so vielen Bands. Das Entdeckertum versickert in Bodenhaftung. Die Rabiata der Jugend weicht der Gemächlichkeit des Alters. Die Musik wird sanfter. Das sechste RIVERSIDE Album ist total emotional. Man könnte sagen, das sei die Band ja immer, aber selten war der Schmalz so prominent. Der Banddeskriptor vielerorts enthält zudem immer noch das Wort "Metal" - völliger Unfug seit Tag 1, aber gut. Bloß weil der Mann am Mikro vereinzelte Silben dereinst grunzend intonierte. Man nenne es besser Prog Rock, denn das ist nicht nur korrekt, sondern darf ja alles und ist somit auch mit der jüngeren Sanftmütigkeit noch konsistent.

Porcupine Tree hatten in ihren letzten Touren gerne mit Pause gespielt, wobei die erste Hälfte dem chronologischen Abspielen des jeweils jüngsten Albums gewidmet war. Das wäre in diesem Fall ein bissel öde, wenngleich wie immer natürlich noch der live-Wumms dazukommt und alles besser, mitreißender macht. Doch die Polen sind besonnen genug, so einen Quatsch nicht zu machen. Klar ist viel neues dabei, aber es gibt von jedem Album etwas zu hören, und es ist interessant herauszufinden, was denn offensichtlich die Hits der Band sind, die die Aufnahme ins Liveset verdient haben. Wird hier aber nicht verraten. Ätsch bätsch.

Love, Fear and the Time Machine hat die ganze rezensorische Verkloppe im übrigen auch gar nicht verdient: Gutes Album. Jedes RIVERSIDE Album ist gut! Nur die Spannung läßt nach zwölf Jahren eben etwas nach. Man will mal etwas anderes, wird introspektiver. Die Bärte sind grau. Mariusz Duda (Bass und Stimme), der mit ungewohnter Frisur auftritt, macht Witze darüber und ist auch sonst ganz nah beim Publikum. Auf Fotos schauen die vier immer so grimmig drein, aber in echt ist man total nett. Ach, ganz sympathische Typen sind das, jaja.

Für die songschreiberische Qualität eines neuen RIVERSIDE Albums spricht auch die Erfahrung, bei nur zweimaligem Hören als Nebenbeschäftigung genug Wiedererkennungsanker eingefangen zu haben, um im Konzert schon freudig ihrer Vertrautheit folgen zu können. Mehrmaliges Hören offenbart außerdem ungeheuerliche Tiefe. Im Aether arbeitet der Bass an der Skizzierung einer Welt ganz unten am Grund des Flusses. Ansonsten sind da Melodien. Die waren schon immer da, doch diesmal gibt es weniger der Gegenüberstellung mit dem proggigen Geschrammel und verwinkelten Songstrukturen. Das viele Beugen und Winden macht halt der Rücken nicht mehr mit.

Pompös darf die Präse trotzdem sein. Das Columbia Theater beweist sich erneut als hervorragender Konzertsaal, der mal wieder eine glänzende Abmischung und Lichttechnik bereitstellt, sowohl für den Headliner als auch seine zwei mittelmäßigen Vorgruppen Lion Shepherd und The SixxiS. Die geilen Leuchtdreiecke aber bleiben für die Hauptband reserviert, davon dürfen die anderen nix abhaben wegen Antiklimaktik. Alle Polen machen Selfies mit dem Publikum, und ganz neu: am Ende verbeugt sich Riverside, man ist ja im Theater. Moment mal!? Verbeugen? Der alte Rücken? Was! Lug und Betrug! Das war wohl alles nur Theater! Moment mal!? Theater? Jetzt wird vieles klar!

JAGA JAZZIST live: Funkelnder Jazzpunk in der Steam Machine

 

Fünf Jahre nicht in Berlin gewesen? OK, aber auch sechs Jahre kein Album rausgebracht. Da meint man, eine Wissenslücke in der Diskografie zu haben und stellt fest: stimmt ja gar nicht! Die faulen Norweger haben einfach ne ruhige Kugel geschoben. Träg in der skandinavischen Sonne gehangen. Däumchen gedreht. Die Eier geschaukelt. Und wenn man sich dann endlich mal mit nem neuen Album blicken läßt, kommen poplige fünf Liedchen bei rum. So ham wir's gern.

Kleines Eingeständnis: Die Fünf sind jeweils recht lang, gemeinsam bringt man es auf knappe 50 Minuten. Großes Eingeständnis: Die Fünf sind exzellent, und die Behauptung, mit Starfire läge das bislang aufregendste Album der Kapelle vor, ist alles andere als gewagt.

Es liegt wie so oft an den Synthetisanten. JAGA JAZZIST machen Dampf in der Maschine: Der titelspendende Opener des Albums, im Liveset korrekt als Centerpiece angesiedelt, brettert das beste Saxophonsolo daher, das je aus einem Keyboard rausgekommen ist. Ist das jetzt noch Post-Jazz oder schon wieder Prog-Jazz? Live wird das ganze auch noch mit stroboskopischen LED-Stelen akzentuiert, bestimmt 30 an der Zahl, über die ganze kleine Bühne des Gretchens verteilt. Dazwischen haben Musiker keinen Platz, sich zu bewegen. Zeit hätten sie auch nicht; hochkonzentriert geht es zur Sache. Die Stücke sind lang, komplex und fließen gefühlt ineinander. Drei Viertel der Besatzung sind an wechselnden Instrumenten zu beobachten. Vollprofis.

Die Klarheit der Klänge ist grenzwertig. Ausgerechnet die Bläser saufen ein wenig ab. Das Schlagzeug ist dominant, sein Operator ebenfalls - der bärtige Wikinger ist an diesem Abend für die Publikumsansprache zuständig. Er schallt nicht aus dem Hintergrund, sondern von vorne links und gibt den Takt nicht nur im Wortsinne vor. Dennoch, einen offenbaren Bandleader gibt es nicht. Man ist eine wohlabgestimmte Truppe. Und das Licht. Wer steuert eigentlich das Licht? Gute Arbeit, gute Synästhesie. Man darf ruhig zugeben, das beim Anblick der Lightshow die Augen kindlich leuchten. Man darf auch zugeben, Feuerwerk toll zu finden.

Neuester Trend: Niemand hat mehr Bock auf Auszeit vor der Zugabe. Ein letztes Stück wird angekündigt, danach geht es vielleicht eine Minute von der Bühne, bevor die wirklichen letzten drei Stücke kommen. God is an Astronaut sind noch nicht mal von der Bühne gegangen, sondern haben einfach drübergelabert. Moderne Zeiten, um es mit Chaplin zu sagen.

Insgesamt ist JJ eine gepflegte Erscheinung. Der Alk im Norden ist teuer, Prostitution verboten. Da muß man es jedem Touristen von dort hoch anrechnen, hierzulande nicht dauerknülle im Puff abzuhängen. Ist ja nicht alles besser bei denen. In diesem Sinne: Hollebolle!

GOD IS AN ASTRONAUT live: Der Teufel ist ein Gleichhörnchen

 

Der geleckt schnieke Saal des Columbia Theaters Berlin bietet das korrekte Szenenbild für die ir(d)ischen All-Väter. Großer Dank außerdem an den Bringer der Seifenblasen, der damit den Weitblick eines Sternenfahrers bewies. An ihnen bricht sich das Scheinwerferlicht der einer bunten, vergnügten Lichtshow, das tief aus dem kosmischen Nebel dringt und die Schatten der Band auf die Bühne malt.

Der Bandname ist ebenso plakativ wie die schmerzlich bemühten Universalallegorien einer Musikrezension, welcher ohne sie ein pointierter Einstieg fehlte. GOD IS AN ASTRONAUT spielen ein Genre namens Space Rock, das sich den Fallstrick der Gleichförmigkeit mit Post und Math teilt. Was die Band ursprünglich, insbesondere auf dem zweiten Album All is violent, all is bright so brilliant machte, waren starke Melodien. Instrumentale Rockmusik mäandert gerne, und GIAA tun das auch, doch vergaßen sie nicht, starke, mitsummbare Akzente zu setzen - zuweilen fast schon Space Pop.

Diese Qualität hat innerhalb von sieben Alben ein wenig abgenommen. Es ist unvermeidlich: Die gefühlte Beliebigkeit setzt ein, alles klingt sehr ähnlich. Dabei muß man dem Trio fairerweise anrechnen, daß sich die Komplexität ihrer Kompositionen mit der Zeit erweitert hat - der Mitsummfaktor, der die Musik anfangs so packend machte, ist ein wenig geschrumpft, die technische Rafinesse gewachsen. Und ganz neu: im Titelstück Helios | Erebus versucht man sich ausnahmsweise an Gesang, wenngleich auf passend sphärische Art, welche die Worte verschleiert. Und Centralia ist ein echter Brecher, der wie große Teile des Live-Sets härter, schrammeliger daherkommt als die Studioaufnahmen und Bewegung fordert, aber nicht erzwingt.

Es macht überraschend große Freude, GOD IS AN ASTRONAUT live zu hören. Laut, gewaltsam, aber nicht gesundheitsgefährdend, sondern auf einem Pegel, der eine kristallklare Abmischung erlaubt. Die Studioversion stinkt ab dagegen, die meisten Heimanlagen ohnehin. Die Band ist ganz bei sich, meistens, hat aber sichtlich Freude, ein wenig Rockstar-Gestik, und wärmt gegen später den Saal mit einer Prise Humor auf. Die Laufzeit liegt irgendwo zwischen 90 und 120 Minuten und vergeht wie im Flug. Im interstellaren Flug.

Alle Zweifel sind ausgeräumt: GOD IS AN ASTRONAUT sind live hervorragend. Gleichförmigkeit zum Teufel; das achte, neunte und zehnte Album sind angesichts der damit verknüpften Touren jetzt bereits willkommen.

LA DISTANCIA: Die Welt ist Brecht

 

Drei übernatürliche Zwerge haben einen Job bekommen: In das alte Kraftwerk einzubrechen, um dort THE DISTANCE zu stehlen. Der Auftraggeber ist ein eingesperrter Künstler, dessen Besitzer der verstorbene Kraftwerkseigentümer war. Und auch sonst ist alles Unfug in Sergio Caballeros Machwerk, das irgendwo in Absurdistan in der ehemaligen Sowjetunion spielt.

Um es mit Max Goldt (Foyer des Arts) zu singen: Wie hängt das nur zusammen, wo liegt der tiefe Sinn? Man kann nicht sicher sein, ob ein solcher beabsichtigt war. Le filme ist durchsät von Eigenartigkeiten, die zwar zuweilen einen offensichtlichen humoristischen Zweck zu erfüllen durchaus im Stande sind, andererseits besteht kein Zweifel, daß etwa der japanische Lingus* (*kein echtes Wort) des dampfenden Eimers reines Stilmittel ist. Er ist in den Kamin verliebt und faselt gern Haikus daher. Die Tatsache, daß auch sonst niemand zum Sprechen die Lippen bewegt, humanisiert die beiden.

Unterteilt in sechs Tage, die willkürlich gewählte Deadline für den Job, nutzen die Zwerge ihre Superkräfte, um behutsam die Gegend auszuspähen, anstatt die Sache innerhalb weniger Minuten abzuhaken, wie es Ihnen (sic) möglich wäre. Freilich wäre dann keine Zeit, die Schönheit der entsättigten Krimlandschaft aufzusaugen. So zweckbefreit DIE DISTANZ zwischen Filmbeginn und Ende ist, so kompetent ist sie in Ihrer technischen Umsetzung. Fürwahr, der Weg ist das Ziel. Erträglicherweise ist dieser nicht allzu lang, und doch kommt das Ende zu abrupt, im Moment eines synergetischen audiovisuellen Crescendos. Aber egal, FOTY* (*film of the year) Material liegt hier eh nicht vor, und alles andere zählt bekanntlich nicht.

Wir schließen: Der singende Caballero wollte sich einfach mal ausspinnen. Unter meinen Fingernägeln spielt sich manches ab, lautet eine weitere Max Goldt Zeile. Man sollte allgemein wieder mehr NDW hören, zu welcher Foyer des Arts eigtl. gar nicht so richt. wirkl. dazugehören. Eine andere Möglichkeit ist, daß Monsieur C., der Künstler mit dem gebrochenen Österreichisch, einfach mal gern nach Japan möchte, sich aber das Ticket nicht leisten kann. Der ganze Film also Kompensation für einen kleinen Geldbeutel?

Sofern die Rückschau auf Дистанция hiermit endgültig aus der Bahn geglitten erscheint, ist die Arbeit des Kritikers vollbracht. Hart drückt ihm die Rückenlehne ins Kreuz und pressiert ihn, zum Schluß zu kommen. 6/10.

MAGICAL GIRL: Von unten grinst der schwarze Lurch

 

Bárbara (Bárbara Lennie) betrinkt sich mit Sailor Moon. Den Schnaps gibt es nicht wirklich, er ist nur eine ebenso beiläufige wie bedeutungsfreie Anspielung an das titelgebende MAGICAL GIRL in einem Film, der wie die spanische Bevölkerung zwischen Rationalität und Emotionalität feststeckt. Daß es jener so ergeht, erklärt zumindest Oliver, bevor er Bárbara den Umschlag mit dem magischen Wort übergibt.

Gut, soweit geht Carlos Vermut (Regie, Drehbuch) mit der Metapher dann doch nicht. Das Wort ist nur ein Wort, und es passiert auch nichts magisches, sondern nur ein wenig SM-Sex zwischen den Schnitten. Doch zurück zum Anfang. Alicia (Lucía Pollán) hat Leukämie und drei Wünsche: Superkräfte, das Kostüm Ihrer Lieblingsanimefigur zu tragen, und 13 Jahre alt zu werden. Ihr alleinerziehender Vater Luis (Luis Bermejo) legt alles daran, ihr den einzigen Wunsch zu erfüllen, der im Rahmen seiner menschlichen Möglichkeiten liegt, doch das Magical Girl Yukiko Kleid ist teuer, zu teuer für ihn. In einer Zufallsbegegnung trifft er auf Bárbara, die gerade dabei war, sich als Maßnahme der Problembewältigung mit eben jenem Sailor Moon und einer Handvoll Schlaftabletten zu betrinken.

In einer gestaffelten Erzählstruktur springt MAGICAL GIRL mehrmals in der Chronologie zurück, um seine drei zentralen Figuren und Ihre Leidensgeschichten einzuführen und schließlich miteinander zu verknüpfen. Nebst Bárbara und Luis ist da noch Damian (José Sacristán), Bárbaras ehemaliger Mathematiklehrer, der offenbar eine schwierige, emotionale Verbindung zu ihr hat und die letzten zehn Jahre im Gefängnis verbracht hat. So wie der Film nacheinander den Fokus wechselt, um seine drei Figuren zu beleuchten, so wechselt auch seine Tonart. Luis' Geschichte zeigt eine Art aufmüpfiger Heiterkeit im Angesicht Alicias tödlicher Krankheit. Bárbara hingegen ist seelisch krank und schafft ein Ambiente der Verzweiflung, welche durch das Zusammentreffen mit Luis auf fatale Weise verstärkt wird. Damian schließlich entlädt stille Wut, welche ebenso wie Bárbaras Seelenunheil ihren tiefsten Ursprung in Ereignissen hat, die nur vage angedeutet und spekulativ bleiben.

In dieser bewußten Auslassung steckt der ultimative Kniff sowie die große Achillesverse des Films. Carlos Vermut zeigt emotional geladene Charaktere und verlangt seinem Publikum die distanzierte, rationale Analyse derselben ab, indem er entscheidende Einblicke in deren Innenleben verwehrt. Luis, welcher in dieser Hinsicht als einziger ganz nachvollziehbar bleibt, wird ironischerweise in eine Antagonistenrolle gedrängt und der Film so eines sympathischen Kerns beraubt.

Anstatt sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, untersucht Vermut also das Hier und Jetzt seiner Charaktere und zeigt sich darin durchaus kompetent. Mit Luis schafft er es, eine aufrichtige Beziehung zwischen Vater und Tochter zu zeichnen, deren besondere Dynamik sich aus besonderen Umständen schöpft und mit geringen Mitteln zu rühren vermag. Das Verhältnis zwischen Bárbara, ihrem Mann und ihrer Umwelt ist schwieriger, offenbar gestört und schafft Neugier auf seine Ursachen. Und Damian, die große Blackbox des Films, bringt sogar Momente aufrechter Spannung in ein insgesamt eher methodisches Drama.

MAGICAL GIRL wird somit trotz seiner ruhigen, kühlen Erzählweise zwar nie langweilig, könnte aber durchaus von einem stärkeren emotionalen Interesse profitieren - das Mysterium um die Hintergründe seiner Charaktere gereicht ihm in dieser Hinsicht nicht zum Vorteil. Bárbara ist die vermeintlich zentrale Figur, an der sich die Handlungsstränge treffen und die das Gros der teilweise merklich langen Laufzeit einnimmt, doch was anhand ihrer Undurchdringbarkeit als auffälligster Filmmoment heraussticht, ist die von einer Art Luxuszuhälter vorgetragene Stierkampf-Allegorie auf die Befindlichkeit der spanischen Gesellschaft - Ratio versus Emo.

Muß ich schwere Konsequenzen befürchten, wenn ich diese Frage offen lasse?

 

Zunächst: Diese Frage ist selbstverständlich nicht lösbar. Das heißt, nicht normalerweise. Wer sich aber minutenlang eine Sendung über Gewichtsprobleme von Prominenten anhören kann, schafft das locker. Nun, nicht normalerweise. Aber in diesem Fall schon. Wie werden sehen, warum.

Ein Paradoxon ist gewöhnlicherweise ein Problem, dessen Lösung das Problem selbst ist. Die Frage muß zwangsläufig zu vollständiger Hirnverbrennung von Autor und Audienz führen. Weshalb die eigentliche Frage sein sollte, warum man solch eine Frage stellen mag. Diese Antwort kennt aber jeder, was wiederum die Antwort darauf ist, warum dies eben nicht die eigentliche Frage ist, sondern die gestellte. Jeder ist falsch: die meisten. Man darf nie seine Leserschaft überschätzen.

Zur Frage, besser deren Beantwortung. Die Möglichkeiten in diesem Fall sind recht überschaubar, sie lauten ja oder nein. Plus Begründung. Doch es ist nicht einfach nur eine freie Entscheidung zwischen zwei Antipoden. Es ist eine Entscheidung zwischen falsch und richtig, gut und böse, Liebe und Angst. Man könnte es sich jetzt hier einfach machen wie Kant mit seinem Gottesbeweis und die Frage einfach zweimal beantworten, plus Begründung. Sich zu widersprechen heißt aber, unentschlossen zu sein, somit ist hier zweimal keinmal.

Das Problem der Antwort. Es ist zu vermuten, daß jede Antwort nichts weiter als Realitätsflucht darstellt. Denn wie kann ich behaupten, Konsequenzen fürchten oder nicht fürchten zu müssen, indem ich durch Beantwortung der Frage die Prüfbarkeit eben dieser Konsequenzen meide?

Empirisch lassen sich zwar die Konsequenzen der Nichtbeantwortung nicht mehr nachvollziehen, wenn diese nicht erfolgt. Jedoch ist Nichtbeantwortung nichts weiter als der Zustand zwischen Fragestellung und Beantwortung und somit unvermeidbar, weshalb sich immer Konsequenzen aus der Nichtbeantwortung ziehen lassen. Zeit ist hier ein entscheidender Faktor. Die Frage kann also gar nicht unbeantwortet bleiben. Allein aufgrund der zeitlichen Differenz zischen Frage und Antwort entsteht die Antwort selbst. Aktiv benötigt diese Frage gar keine Antwort. Stattdessen existieren Antwort und Nichtantwort schließlich in zeitloser Gleichzeitigkeit.

Allein die Tatsache, daß sich die Frage von selbst beantwortet, heißt aber nicht, daß keine Konsequenzen verbleiben. Das Problem hat sich lediglich verschoben: Nicht die Konsequenzen einer eventuellen Nichtbeantwortung sind das Problem, sondern die unvermeidbaren Konsequenzen aus dem Stellen der Frage selbst. Die Einfachheit der Beantwortung durch Nichtstun und ihre existentielle Komponente der Einheit von Dasein und Nichtdasein bilden fieberhafte Meditation. Was sind die Konsequenzen des Nichtstuns?

Ich spüre, wie mich eine Wolke des Vergessens umgibt. Das Nichtstun setzt ein. Zwar hauen meine Finger noch in die Tasten, aber halbierte Insekten zucken auch noch. Was beim Lesen unbemerkt bleibt, ist die wachsende Zeitlücke zwischen Wort und Wort. Wenn jedes Wort eine Frage ist, auf welche ein Antwort folgt, so wächst die Nichtbeantwortung von Wort zu Wort. Auf jedes weitere Wort folgen weniger Worte. Die Menge von Worten pro Leben ist auch begrenzt. Je weniger verbleiben, desto wichtiger werden sie. Die Konsequenzen werden schwerer, wie von Schnaps zu Schnaps. Hirnverbrennung ist nun mal eine Konsequenz von Alkohol. Mit jedem Rausch ein paar Millionen. Man muß nicht betrunken sein, um dumme Fragen zu stellen. Gute Überleitung.

Die Frage ist ja nicht: Gibt es Konsequenzen? Konsequenzen gibt es, auch frei nach kantscher Kausalkette, ohnehin. Die Frage ist: Sind die Konsequenzen schwer, und muß ich sie fürchten? Fragen sind Worte. Je mehr Fragen, desto weniger Wichte. Die Schwere hängt von der Menge verbleibender Fragen ab. Es hängt davon ab, wann die Frage gestellt wird. Ich habe sie mit 25 gestellt und wohl gerade noch mal Glück gehabt.

Ich widme mein Werk all den armen Schweinen, denen es von Vertrauten auf dem Sterbebett vorgetragen wird. Ihr seid die krassen Wanker. Peace out.

Dieser Text ist ALT. Er erschien zuletzt im Lifestyle-Magazin remède de cheval.