ENRAGÉ: Das Gesetz der Welt

 

ENRAGÉ ist das Remake eines Italieners namens Cani arrabbiati (1974), mit dem er sich auch den internationalen Titel Rabid Dogs teilt. Ohne den Vergleich mit dem Original anstrengen zu wollen oder zu können, sei gesagt, daß ENRAGÉ nicht gänzlich für die Katz sein kann, denn kompetentes Handwerk ist ja auch was wert. Nur allzu überrascht dürften Genrekenner, Original hin oder her, hier nicht von dannen gehen.

Der wesentliche Teil der Handlung spielt sich im gekaperten Auto eines Mannes (Lambert Wilson) ab, der eigentlich seine Tochter, sediert auf der Rückbank, ins Krankenhaus fahren wollte, stattdessen nun aber die Bande und eine weitere Geisel (Virginie Ledoyen) auf ihrer Flucht quer durchs Land fahren muß. Typischerweise spielt das unpersönliche Ding Film fürderhin mit den Sympathien des Zuschauers, so sich die Beziehungen und Beweggründe der Beteiligten mal langsam entfalten, mal brachial ändern und dann doch wieder geheim bleiben. Und wer sich der gefühlsduseligen Narretei hingibt, es hier doch nur mit Opfern unwirscher Umstände zu tun zu haben, wird schön zurück auf den Tatsachenteppich gebracht, wenn bald an aller Hände Blut klebt.

Geiseldrama, so wie jedes Drama überhaupt, funktioniert natürlich nur mit überzeugenden Darbietungen, und zum Glück: Wenngleich es schwerfällt, einen emotionalen Strohmann in dieser abschäumischen Erzählung auszumachen, hält das hohe Niveau natürlicher, französisch verfluchter Schauspielleistung den Film am kacken. Dieser geniert sich denn auch nicht, einen Haufen nach dem anderen zu setzen, bis im unvermeidlichen Finale endlich alles zum Arsch geht. Akzentuiert wird das Ganze mit einem selbstverfreilich französischen Elektrosoundtrack.

Vom Gefühl her leicht Beirrbare dürften mit der Auflösung oder überhaupt allem unzufrieden sein, wer aber innerlich tot oder zumindest ausreichend abgestumpft ist, darf ruhig mal reinschauen.

LA FRENCH: Heimatfront

 

Der internationale Titel von LA FRENCH lautet THE CONNECTION, und da haben wir es auch schon: Es geht um den großen Kampf zwischen Räubern und Gendarmen am Schauplatz Marseille. Die Räuber sind natürlich nicht ganz so harmlos, sondern eine skrupellose Drogenmafia rund um den unfaßbaren Gaëtan Zampa (Gilles Lellouche), während auf Gendarmenseite der frisch beförderte Untersuchungsrichter Pierre Michel (Jean Dujardin) vor Ehrgeiz strotzt. Originale Fernsehschnipsel erinnern an die Echtheit der Ereignisse: Zampa und Michel sind reale Personen aus der Spätzeit der French Connection, LA FRENCH eine fiktionalisierte Nacherzählung in der Tradition großer Crime-Thriller.

Beide Seiten des Krieges finden hier gleichermaßen Aufmerksamkeit. Dabei liegen die Sympathien des Films natürlich ganz bei den Gesetzeshütern und Pierre Michel, der eine persönliche Obsession mit der Jagd nach Zampa entwickelt und damit auch das Privatleben mit seiner Familie arg strapaziert. Michel, der "French Cowboy", ist der Dirty Harry der Operation - wobei seine Waffe kein Schießeisen ist, sondern Unnachgiebigkeit und ein freizügiger Umgang mit Strafverfolgungsmethoden, deren Legalität nicht immer gewährleistet ist. Dujardin, der ohnehin toll ist, füllt seine Rolle mit dem notwendigen kantigen Charme, auf den das Publikum total abfährt. Mach sie fertig, Cowboy!

Die überzeugendste Leinwandpräsenz bringt aber Lellouches Verkörperung des Drogenpaten hervor. Gaëtan Zampa hält seine perfekt organisierte Bande mit Angst beisammen. Weil es niemand wagt, ihn zu verraten, zieht sich die Jagd nach ihm zum Frust der Fahnder über Jahre hin. Lellouche muß dazu keine Gewaltausbrüche demonstrieren; sein Zampa ist gefaßt und berechnend. Und doch: sowie sich die Schlinge des Gesetzes nach und nach um ihn herum zuzieht, degradiert die coole Erscheinung immer mehr zur Maske. Wenn es dann doch noch zum Ausbruch kommt, ist dies nicht nur logische, sondern emotionale Konsequenz aus der starren Miene zum bösen Spiel.

Regisseur (und Drehbuch-Coautor) Cédric Jimenez macht mit LA FRENCH alles richtig: hervorragendes 70er Jahre Setdesign im sonnigen Marseille samt passender Musikauswahl aus der Welke der Chanson und der Blüte der Disko, pointierte, kompetente Action, schnippische Dialoge und viel Dynamik in der Interaktion seiner Charaktere. Unter all der opulenten Inszenierung und ergreifenden Dramaturgie ist das entscheidende Kompliment aber, daß man LA FRENCH seine gehobene Laufzeit von 135 Minuten zu keiner Zeit anmerkt.

THE WORLD OF KANAKO: Wenn man vom Teufel spricht

 

Kanako (Nana Komatsu) ist verschwunden. Mutter bittet Vater um Hilfe. Die beiden haben sich einst unversöhnlich getrennt, und Kanakos Vater (Kôji Yakusho), der sie lange nicht gesehen hat, erfährt auf der Suche nach ihr Dinge, die er vielleicht lieber nicht gewußt hätte. Doch als gewalttätiger Säufer kann er sich nur selbst die Schuld daran geben, was aus der Tochter geworden ist.

Im neuen Gewaltfilm von Tetsuya Nakashima gibt es keine Sympathen. Der Vater, der uns auf die Suche nach seiner entfremdeten Tochter mitnimmt, schimpft, schlägt, vergewaltigt. Die Tochter wird mit jeder neuen Spur ein wenig düsterer gezeichnet. Auf dem Weg treffen sich brutale Gangs, korrupte Polizisten, kaputte Teenager und ein verrückter Killer. Im Hintergrund lauern ähnliche Themen wie schon in Nakashimas Confessions, der menschliche Abgründe mit chirurgischer Geduld seziert hatte. In THE WORLD OF KANAKO (Kawaki) weichen die präzisen Schnitte jedoch grobschlächtigen Hieben. Dieser Film ist laut, bunt und blutig, dabei aber leider nicht konsistent.

So setzt die erste Irritation nach wenigen Minuten ein, wenn der Film nach einer operettenhaften Collage im urbanen Japan zur Weihnachtszeit, einem Wechsel aus späteren Charakteren und Haßtiraden des baldigen Protagonisten, in eine erstaunlich pulpige Titelsequenz changiert, komplett mit funkigem Soundtrack, hipper Splitscreen-Montage und poppigen Cartoon-Zwischentiteln. Ab da ist stilistisch alles erlaubt, von Anime-Sequenzen über Closeup-Shakycams zu Foto-Slideshows mit Musik, die heute modern ist, wie Dubstep und Vocaloid-Pop. Es ist zuweilen Style over Substance, verschleiert die audiovisuelle Experimentierfreude doch das emotionale Herz des Films - oder ist das etwa der Zweck? Die Titelfigur, so erfahren wir, ist innerlich leer. Liegt hier gar ein kinematografischer Metakommentar auf die gebrochene, perspektivlose japanische Jugend vor?

Die Antwort ist jein. THE WORLD OF KANAKO verbringt zunächst viel Zeit damit, Antipathien zu seiner Hauptfigur - nicht Kanako, sondern ihr Vater - aufzubauen und ein Beziehungsgeflecht zu konstruieren, in dem niemand seinen Nächsten liebt, so sehr dies der eine oder die andere auch behauptet. Gewalt und Bodycount eskalieren, und es ist ernüchternd festzustellen, daß der Film erst dann eine tonale Konsistenz gewinnt, wenn alles auf grotesk schwarzhumorige Ausmaße angeschwollen ist - nachvollziehbar an der zunehmend blutgetränkten Garderobe des Vaters, der sich nie umzieht oder wäscht. Angesichts der Absurdität dieser Abwärtsspirale sind es die komischen Elemente, die hier am besten greifen.

Psychotische Gewalt und jugendliche Beklemmung sind mittlerweile gut gereifte Motive des japanischen Films. THE WORLD OF KANAKO bietet ein interessantes Mashup, aber wenig neues und ist genau einmal sehenswert.

H. wie Hängt (das nur zusammen)

 

H. ist der dritte Film von Rania Attieh und Daniel Garcia, dauert knapp über 90 Minuten und ist in Farbe. Er ist gut.

Weltuntergangsstimmung herrscht in Troja oder auch Troy, New York. Betroffen sind davon Helen (Robin Bartlett) und Helen (Rebecca Dayan), die ganz zufällig den gleichen Namen haben. Ihre Geschichten, welche hier abwechselnd erzählt werden, kreuzen sich nur thematisch. Beide haben psychische Probleme rund um Babys und Männer.

Helen 1 und ihr Mann Roy sind im Rentenalter. Wir wissen nicht, was schiefgegangen ist, daß sie mit einer Babypuppe Mutter spielt und jene überall mit sich herumführt. Roy nimmt es hin. Helen 2 hingegen erwartet ein echtes Baby. Ihr Freund Alex ist davon nicht weniger belastet, als Roy von der Puppe. Vielleicht ist er deshalb fremdgegangen. In jedem Fall ist die Atmosphäre in beiden Haushalten bedrückt.

Die gute Nachricht: Sowie hier reichlich Spielraum für verkopfte Analyse geboten wird, ist die Kenntnis griechischer Mythen trotz hoher Symboldichte und Paraphrasierung für den Genuß dieses Werks nicht erforderlich. Stattdessen ist hier ein narrativ und fotografisch kreativer Mix aus Charakterportraits und Akte-X-Szenario zu beobachten, der gerade genug surreale Elemente einwirft, um die Plausibilität der Welt und seiner Bewohner in Frage zu stellen, ohne dabei geradewegs in Fantasy-Gefilde abzugleiten. Während die Protagonisten ihrem teils mehr, teils weniger gewöhnlichen Alltag nachgehen, erzählt das Fernsehen von Meteoriten, Männer haben unerklärliche Kopfschmerzattacken, und alle verlieren gelegentlich das Bewußtsein. Derweil schwimmt der riesige abgetrennte Kopf einer Statue flußabwärts. Und weil das alles in Troja oder auch Troy, New York spielt, spukt auch noch ein mysteriöses Pferd durch die Gegend.

Hervorragend: das Tempo. Hier ist kein Moment zu lang oder zu kurz. Entsprechend ist die Informationsmenge natürlich auch exakt richtig. Komplexe, ergreifende Figuren, die in der ihnen gegebenen Zeit eine glaubhafte Entwicklung vollziehen, sich aber nie ganz erklären. Ereignisse, die ebenso real wie erträumt sein können. Der schauerliche Soundtrack rundet die Sache nicht ab, sondern verleiht ihr erst Kanten. Eine Gratwanderung zwischen Mystik und Wirklichkeit.

Worum es im Kern eigentlich geht, kann hier nicht verraten werden. H. muß entdeckt, erlebt und erfühlt werden - das alles mit gebührender Subjektivität.

Die Supermarkttomate

 

Reminiszenz auf ein langes Leben im Beschuß von Kritik und Kunstlicht

Der Supermarkt im Winter ist ein Ort sommerlicher Behaglichkeit. In der Obst- und Gemüseecke herrscht Strandflavour. Wo immer wir hinsehen, nichts als entblößte Knackhintern, formschön, fest und rund; die Hautfarbe ein etwas zu sonnenverwöhntes Rot, welches uns aber gleichwohl sagt, daß hier die Gene stimmen. Sie sind gesund. Natürlich möchte man einmal hineingreifen.

Solange es sich aber bei unseren Tomatenhintern nicht um tatsächliche Tomaten handelt, belassen wir es dann doch meistens bei einem gierigen und zugleich hoffentlich unauffälligen Blick auf die verheißungsvolle Schönheit, während unsere Hände von ganz allein die eine oder andere Tomate befassen und wir unsere Fantasie spielen lassen. Sie liegt gut in der Hand, ist rundherum schön; wir fühlen keine Hautirritationen. Oh, was bist du sexy.

Wichtig bei der Suche nach sexuellen Anreizen in einer anonymen Supermarktsituation ist, sich nicht zum Deppen zu machen. Dies verbietet trotz aller Reizüberschwenglichkeit beispielsweise ein zu festes Zupacken, denn ansonsten hat man ganz schnell den Salat, er liegt gleich nebenan, mit seinem Saft vollgespritzt; eben jenem Tomatensaft nämlich, welcher soeben noch von der nun zerborstenen makellosen Haut zusammengehalten wurde, jetzt aber das verdorbene Innenleben unserer Passion freigibt. Und so ist man nicht nur um einen geplatzten Traum und einen Teil seiner Würde ärmer, sondern hat gleichtzeitig auch nichts verstanden.

Nicht verstanden nämlich, daß die Tomatenauslage mit um die zwei Euro pro Kilo eben kein billiger Porno ist, sondern erstens günstig, zweitens anspruchsvolle Erotik. Daß die mit Servietten ausgelegten Kästen, in denen sich die Früchte räkeln, kein sparsamer Bettbezug sind, sondern samtiger Catwalk. Das Neonlicht an den Decken scheint nur für sie. Wir dimmen das Licht und machen eine Kerze an, weil's romantisch ist und außerdem bald Weihnachten. Wären sie nicht diesen Tick zu schwer, könnte man sie an den Christbaum hängen. Die zwei Wochen, die jener stehen muß, halten unsere Tomaten locker aus. Man könnte sie sogar am ersten Advent schon aufhängen.

Die Longlife-Tomate, vermutlich ursprünglich ein Nebenprodukt direkt aus der Entwicklungsabteilung von Duracel, hält sieben Wochen. Andere Züchtungen geben schon nach maximal drei Wochen auf. Züchtungen wohlgemerkt; hier sind Genmanipulationen am Werk, die auch ohne menschliche Hilfe in Tausenden von Jahren durch natürliche Selektion von ganz allein hätten entstehen können. Frecherweise werden diese der echten laborativ gentechnisch manipulierten Tomate klar unterlegenen Sorten hierzulande nicht nur trotzdem, sondern ausschließlich angebaut und angeboten, und das nur, weil im Handel für exorbitant lange Lagerzeiten »kein Bedarf besteht«. Traurig: wieder einmal wird Fortschritt von Kleinkariertheit und Profitoptimierung ausgebremst. Wenigstens in den amerikanischen Staaten und in britischem Tomatenmark konnte sich hier ein kleiner Markt etablieren.

Kürzer haltbare Züchtungen aus spanischer, italienischer oder anderweitig südländischer Massenhaltung hingegen müssen halbreif geerntet werden, um dann, trotz vermeintlicher »Nachreifung« während des Transports, im hiesigen Supermarkt jung und knackig der Konkurrenz aus dem sonnigen Holland Paroli bieten zu können. Dabei entsteht dann natürlich nicht der Geschmack, den die volle Sonnenreifung erzeugt hätte, aber der ist sowieso nicht so wichtig. Denn abgesehen davon, daß ohnehin jedes beliebige Erzeugerland vertrauenswürdiger erscheint als die Niederlande, die nicht mal eine eigene Automarke haben, sind auch ausnahmslos alle im Selbstbedienungshandel erhältlichen Tomaten weniger Nahrungsmittel denn abstrakte Kunst. Jenes gilt freilich nicht nur für Tomaten, sondern für die ganze Nahrungsmittelindustrie, wie uns das Wort schon selbst zu erkennen gibt.

Tomaten, an denen noch Grünzeug dranklebt, sind hübscher und werden gerne gekauft, weil sie natürlicher dreinschauen oder der leicht giftige Stengel schön duftet. Die Neigung der Kunden zum unreflektierten Selbstbetrug ist seit jeher Vermarktungsmittel Nummer Eins. Schon mal überlegt, warum alle Tomaten auf einem Zweig den gleichen Reifegrad haben? Ja, genau.

Der prominente Ruf der Tomate, bei der wir zwar gerne hingucken, sie aber im öffentlichen Diskurs verachten und im Stillen neiden, nährt sich schon lange nicht mehr aus der Erinnerung an ihren »echten« Geschmack. Stattdessen gehört es zum Allgemeinwissen, daß Tomaten nun mal relativ geschmacksneutrale Früchte sind, weswegen man sie auch gerne mit ähnlich geschmacksneutralem Kuhmilchmozzarella belegt, um an dieser im Fleur de Sel ertränkten Reizarmut dann vergeblich die Geschmacksnerven tot zu trainieren. Der Caprese ist schließlich, irgendwann in den Trend gekommen, vor allem ein Mahl für die Augen (bevor hierzulande der Balsamicoessig dazukam und Optik wie Geschmack gleichermaßen brandschatzte). Und da müssen die Tomaten nun mal entsprechend aussehen. In Wahrheit hat auch keiner ein Problem damit - die Frucht besteht zu 95% aus Wasser; wonach soll sie auch schmecken, wenn nicht nach Wasser? Der Geschmack der Tomate spielt sich im Kopf ab; da spielt das Aussehen nicht nur irgendeine Rolle, sondern die Hauptrolle. Zu solchen Fragen werden Studien durchgeführt. Der Geschmack der Tomate ist ein Luxusthema. Aber wer die Zeit dafür hat und sich den Luxus leisten kann, kann auch gleich beim Biohändler einkaufen gehen.

Biojunkies: Kulturlose Bauern. Die Longlife-Tomate ist ein Kunstwerk. Dr. Longlife ist ein Computerprogramm der Fachzeitschrift Medical Tribune. Man füllt ein paar statistisch verwertbare Informationen aus und bekommt fortan auf dem Desktop den sekundengenauen Zeitpunkt des eigenen Exodus vorausgesagt. Das macht das Leben zwar nicht länger, ist aber schön ulkig. Die Longlife Tomate ist schön befremdlich, wie es ein gutes postmodernes Kunstwerk sein soll, und man rätselt noch, ob sie das Leben nicht sogar kürzer macht.

Die ersten ein bis drei Wochen der Verwesung von Schlachttieren nennen wir Fleischreifung, die Dauer variiert nach Fleischsorte. Bei Rind ist sie am längsten, weshalb sich dieses Tier für den langen Transport von Argentinien nach Deutschland im mobilen Leichenkühlhaus so gut eignet. Dabei lösen sich die Muskelfasern auf und Aminosäuren werden freigesetzt, wodurch das Fleisch erst zart und schmackhaft wird. Einen derartigen positiven Effekt erfährt die zu jung gestorbene Tomate nicht. Wenn diese den Supermarkt erreicht, ist sie einfach nur ein wenig länger tot als zuvor und hat in der Zwischenzeit noch verwesungsbeschleunigende Stoffe abgesondert. Ist aber gesund.

Dieser Artikel ist ALT. Er erschien zuletzt im Kulturmagazin »remède de cheval«.

Berlin

 

Die Faszination mit der Stadt Berlin zu erklären oder die Liebe zu ihr zu rechtfertigen, ist eine Aufgabe, mithilfe deren versuchter Meisterung Generationen von Autoren eine beachtliche Chronik des Scheiterns zusammengetragen haben. Sich vom schweren Schachtelsatz nur behäbig lösend und sich dabei der grammatikalischen Unsitte des Perfekts bedienend, gibt der Autor hier zu Protokoll, sich nicht bei den seinesanderen einreihen zu wollen und es gar nicht erst zu versuchen. Außerdem ist hier niemand in irgendeine Stadt verliebt, das wäre ja peinlich.

Dennoch ist dieses irrationale ach-wie-toll-die-Stadt-doch-ist-Gefühl auch Auslöser einer ganz erstaunlich erbaulichen »Szene«, genauer gesagt gleich mehrerer. So wie hier subkulturell quasi jeder irgendwie vertreten ist, ist auch für jeden was dabei. Auch kulinarisch.

Montag: Sushi und so. Das Ishin in der Mittelstraße in Mitte. Eine Restaurantkette.
Dienstag: Nix besonderes.
Mittwoch: Dahiwala im Amrit in der Oranienburger Straße, Mitte. Auch eine Kette. (Lustige Notiz: Das zweite Amrit ist in der Oranienstraße. Geschickt eingefädelt, die Herrschaften! (Es gibt noch mehr, haben aber nichts mit Oranien zu tun. Also auch nicht lustig.))
Donnerstag: Gutscheine gegen Burger bei McDonald's, Zoologischer Garten. Ebenfalls eine Kette.
Freitag: Schweinebraten bei Privat.
Samstag: Tapas mit und ohne Tapenade.

Das soll jetzt natürlich keine Anleitung sein, sondern lediglich ein Protokoll. Nicht empfohlen werden Currywurst und Kartoffelsalat. Geht zwar prima zusammen, aber erstens ist Berliner Kartoffelsalat komisch und Currywurst zweitens ungesund und in Berlin, der Hypeheimat der Currywurst, genau denselben Qualitätschwankungen unterworfen wie überall sonst auch.

Besonderheiten der Stadt: Hauptstadt inkl. Regierungssitz, haufenweise Wahrzeichen (Tor, Turm, Bär), übersichtliche ÖPNV-Pläne, mehrere Zoos (zwei) plus einen »Tiergarten«, der keiner ist. Wohlstandsgefälle. Sonst noch was? Natürlich, jede Menge. Aber dafür ist hier kein Platz.

Dieser Artikel ist ALT. Er erschien zuletzt im nicht mehr existenten Lifestyle-Blog remede.de.

Frauen und Küchen und Janus

 

Den Waschtag gibt es nicht mehr. Schuld sind die Waschmaschinen. Wie praktisch, einmal mehr ein persönlichkeitsloses Ding beschuldigen zu können. Und von Schuld muß alle Rede sein: Als in den 50er Jahren (19xx) die Waschmaschinen ihren flächendeckenden Einzug in deutsche Haushalte begannen, war von Frauenbewegerseiten schnell das Bild einer neuen, ungeahnt schamlosen Unterjochung der Frau im Haushalt gemalt, da das häufigere Wäschewaschen mit der Waschmaschine ja in der Wochennettozeit länger dauere als das einmalige Waschen am Waschtag. Und weil Waschen Frauenarbeit war (und ist).

Das ist natürlich Quatsch, denn schließlich wurde die Waschmaschine ja gar nicht für den Haushalt, sondern für die Textilindustrie entwickelt. Und lag preislich über dem durchschnittlichen Monatseinkommen. Selbst schuld, wer versuchte, so ein Gerät unter den Weihnachtsbaum zu zwängen.

In Somalia ist Frauen der Verzehr von Kamelhoden und -Herzen untersagt.

Wie dem auch sei, heutzutage stellt sich kaum noch jemand die Waschmaschine in die Küche - da ist ohnehin immer weniger Platz, wenngleich die Küchen seit dem Frankfurter Entwurf zunächst über den Umweg der DIN 18022 (»Küche und Bad im Wohnungsbau«, 1957) bis zur Kochinsel immer größer wurden; schließlich gibt es ja auch immer mehr unterzubringen.

Um nun den Widerspruch aufzulösen, daß Kochen zwar im konservativen Haushaltssystem vorwiegend Frauensache ist, es Frauen aber gleichzeitig auch in diesem Bereich nur selten an die Spitze internationalen Renommées schaffen, müssen wir Dinge tun.

Bereits an dieser Stelle droht der Artikel, sich in sinnleerem Geplänkel zu verlieren. Was hat Janus damit zu tun?

Während im dunklen Mittelalter der Begriff »Hausfrau« noch in der Bedeutung von »Hausvorsteherin« stand, wurde dieser im Zuge der Rationalisierung (»Vernünftigung«) von Technik, Haushalt, Sprache, Wertesystem und Allgemeinheit während des 19. Jahrhunderts zum Schlüsselwort weiblicher Tugenden im bürgerlichen Weltbild, welches bekanntlich auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch anwährte, dessen wir im heutigen Zeitalter (10. April 2009) jedoch glücklicherweise gänzlich befreit sind.

Die Mutter trägt die von ihr liebevoll zubereitete Suppe auf, Kinder und Ehemann sitzen erwartungsvoll am Tisch. Das von der Mutter oder Ehefrau zubereitete Essen symbolisiert die Liebe als Zeichen der Fürsorge und Sorge für und um und umsorgt die Familienangehörigen. Auch heute haben wir immer noch ganz bestimmte Erwartungen an eine warme (Familien-)Mahlzeit: Suppe, Fleisch, Gemüse, Kartoffeln und Nachtisch, frisch zubereitet und auf einer Arbeitshöhe von 85cm mit Liebe gekocht.

Weitere Forderungen der emanzipativen 1950/60er Jahre umfaßten einen Abstand der Arbeitsfläche zur Türleibung von 10 bis 20cm, eine Brüstungshöhe der Fenster von mindestens 125cm wegen der davorliegenden Arbeitsflächen, Topfschrank in der Nähe des geteilten Herdes (Kochmulde und Ofen), Abzug über dem Herd, verkachelte Wände auf der Herd-Spüle-Seite, warme, rutschfeste und pflegeleichte Böden, sowie einen Kühlschrank, der nicht am Fenster stand, sondern in Türnähe.

Danach kam es Schlag auf Schlag und knüppeldick.

Im Fernsehen wird nun die Hausfrau, deren Arbeit nicht als Arbeit im eigentlichen Sinne, sondern als Liebe im uneigentlichen Sinne definiert ist, bevormundet von einer Armada männlicher Arbeitsköche im Hobby. Frauen dürfen dabei nur reinplappern und ausnahmsweise auch dick sein. Oder wie? Wir warten noch immer auf aussagekräftige statistische Erhebungen zur Veränderung des heimischen Eßverhaltens seit Clemens Wilmenrod und Kurt Drummer. Hier hatte es die letzten nennenswerten Einschnitte durch Krieg und später durch Kühltechnik gegeben.

Aus der Reihe Wunder der Nutzlosigkeit, der Eisschrank (um 1900): Ein dürftig wärmegedämmter Holzschrank mit zwei zumeist nebeneinanderliegenden Fächern, von welchen eines mit Speisen, das andere mit Frischeis und täglich befüllt wird; das Tauwasser fließt durch eine Rinne ab. Auch heute noch kann man gefrorenes Wasser kaufen, dann allerdings meist in kleinen Mengen im Einzelhandel, seltener per Kurier. Das Eis wurde z.B. in großen Scheiben aus der Arktis herausgeschnitten und so verschifft. Die Technik setzte sich nicht durch.

Großgeräte (Waschmaschine, Kühlschrank, Herd und der bis hierher völlig unerwähnte Geschirrspüler) sind also klassischerweise Frauensache (Kleingeräte auch), noch größere Geräte wie z.B. Mähdrescher wiederum meist nicht. Mit dieser Erkenntnis ist niemandem geholfen, das allerdings vor allem deshalb, weil es keine ist. Behandeln wir also noch den Geschirrspüler.

Die Person, die diesen benutzt, dreht an einer Kurbel, und die Teller schwurbeln in ihrem Gitter-Gatter oder Haltevorrichtung durch die Spüllauge, immer rein und raus. Das ganze erinnert äußerlich ein wenig an ein Gürteltier, zu sehen z.B. auf dem Cover des Buches »Haushaltsträume« (der Geschirrspüler, nicht das Gürteltier).

Es gibt keine prominenten Vorbilder für Frauen in der Küche – warum? Der scheinbare Widerspruch läßt sich in wenigen Sätzen auflösen, welche die ganze vorhergehende Abhandlung über Haushaltsgeräte obsolet machen. Zunächst einmal muß klar sein, daß Prominenz bedeutet, im Fernsehen zu sein; eine andere Definition gibt es nicht. Prominente Frauen, also Frauen im Fernsehen, sind natürlich alles Zeitenkinder. Fernsehen und Waschmaschine fallen historisch in dieselbe Ecke, nämlich die der Emanzipation, weshalb erst mal keine Frau Lust hatte, wenn sie denn ins Fernsehen durfte, dort zu kochen, also ein klassisches, althergebrachtes Frauenbild auszufüllen. So konnten sich hier keine Vorbilder etablieren, um dem heutigen Gesellschaftsteil »junges Mädchen« aus dem Klingeltonsiechtum zurück zu einer gesellschaftlich nutzvollen und damit lebenswerten Alltagsbeschäftigung zu verhelfen. Wer als Frau heute kocht, ist nur Schauspielerin. Genau wie es Clemens Wilmenrod übrigens auch war, nur ohne die weibliche Endung.

Inzwischen aber, wo nun eine Bedarfsbasis vorhanden wäre, sind so schöne technische Innovationen wie automatische Kochplatten weitgehend wieder verschwunden. Ein Temperaturfühler in der Mitte der Kochplatte wußte dabei immer genau, wann das Essen fertig war, und schaltete ab. Alternativ stellte man die Uhr. Vom britischen Werkarbeiter im 19. Jahrhundert noch Sinnbild arbeitgeberischer Unterdrückung und somit Objekt des Hasses, erwies sie sich hier nun endlich als nützlich.

Wahrscheinlicher ist allerdings, daß sich einfach niemand an die präzisen Befehle der Geräte hielt, sei es aus einer inneren Abwehr gegen das unbekannte Wesen oder schlicht aus Ignoranz und Besserwissertum, und daß dieser Zweig der Technik somit aus demselben Grund wieder aus den Haushalten verschwand, aus dem sich auch Weltuntergangssekten in der breiten Masse nie durchsetzten, nämlich das Nichteinhalten von Terminen. Dabei liegt der Fehler gar nicht im System, sondern im Menschen, der an dessen kognitiver Durchdringung scheitert. Nach einstimmiger Expertenmeinung wirkt sich auch in diesem Bereich die im Vergleich zum Mann um durchschnittlich 130g geringere Gehirnmasse der Frau nicht nachteilig aus.

Alle Spekulation wäre freilich hinfällig, würde die Technisierung schneller voranschreiten und von Science Fiction Dystopien geschürte mentale Blockaden aufgelöst, welche der Übernahme der Erde durch die Maschinen bislang noch im Wege stehen. Einen Geschlechterkampf gäbe es dann nicht mehr.

Dieser Artikel ist ALT. Er erschien zuletzt nicht im unveröffentlichten Lifestyle-Magazin »remède de la femme«.