CHASUKE'S JOURNEY: Alles wird gut

 

Sabu hat eine Masche: Durch die Aneinanderreihung der unwahrscheinlichsten, wie zufällig erscheinenden Ereignisse unvorhersehbare Geschichten mit komödiantischer Absurdität zu schaffen. So auch hier. Und doch muß man nicht zwingend mit der Filmographie des Autors bekannt sein, um irgendwie kommen zu sehen, wo CHASUKE'S JOURNEY (Ten no Chasuke) hinführt.

Der archetypische Held Chasuke (Ken'ichi Matsuyama) ist im Himmel damit beschäftigt, den Autoren menschlicher Biographien Tee zu servieren und spickelt jenen dabei über die Schulter. Als seine Lieblingsprotagonistin, eine stumme junge Dame namens Yuri (Ito Ohno) bei einem Unfall sterben soll, steigt er mit der Rückendeckung befreundeter Schreiberlinge zur Erde hinab, um ihren Tod zu verhindern. Der Rest geschieht genau so, wie man es sich vorstellt - zuzüglich all der nach Schema Sabu willkürlich eingestreuten Figuren und Ereignisse. Die fantastische Prämisse erlaubt es ihm dabei, noch weniger Rücksicht auf Plausibilität zu nehmen, als bei Sabu ohnehin üblich.

Natürlich hat Sabu Spaß daran, über die lächerlichen Skripte seiner Himmelsschreiberlinge herzuziehen und dabei sowohl das Medium als auch sich selbst gehörig auf die Schippe zu nehmen, jedoch nicht immer mit der notwendigen Klugheit, um selbst gänzlich über der geübten Kritik zu stehen. Zum Lachen reicht es trotzdem, auch wenn CHASUKE'S JOURNEY in seiner Tonalität keine klare Linie verfolgt - Slapstick-Humor wechselt sich hier mit unverblümter Brutalität ab, denn einige himmlische Autoren sind brüskiert, daß in ihrem Text gepfuscht wurde, und wollen Yuri sterben sehen.

2003 war Sabu mit Blessing Bell (Kôfuku no kane) in der Forum-Sektion der Berlinale vertreten, einem Film, der nicht viel anders macht als andere Filme des Regisseurs und doch sehr viel stimmiger und reifer daherkommt. Blessing Bell verfolgt Igarashi, wie er, durch eine unangekündigte Werksschließung eines Morgens plötzlich arbeitslos geworden, ziellos umherwandert und dabei eine Reihe kurioser Dinge erlebt. Es ist diese Ziellosigkeit des Protagonisten, welche symbiotisch mit der zufälligen Erzählstruktur eine introspektive Qualität schafft. Anstatt Erwartungen zu schüren, wird das Publikum auf eine zuweilen meditative Reise mitgenommmen, deren Ziel der oft zitierte Weg ist. 2015 ist nun CHASUKE'S JOURNEY Teil des Wettbewerbs der Berlinale, ein Film, dessen introspektive Qualität darin besteht, möglichst selbstironisch und albern zu sein.

Der Ansatz hat seinen Charme, sorgt aber in Verbindung mit seiner metaphysischen Prämisse dafür, daß den gezeigten Ereignissen jegliches dramaturgisches Gewicht und innere Logik fehlen. Chasuke verfügt auf der Erde über Superkräfte, die aber nur selten nach den Regeln gesunden Menschenverstandes zum Einsatz kommen - und Sabu, der hier einen eigenen Roman verfilmt, weiß sich am Ende nicht anders zu behelfen, als seine Geschichte in einer frohen Mogelpackung aus Nonsens und Klischee aufzulösen.

PIONEER HEROES: Hängen geblieben

 

Hier, eine frische Idee für eine Geschichte: Ein paar Kinder mit großen Zielen wachsen zu desillusionierten, psychisch labilen Mittdreißigern heran. Gut, so originell ist das auch wieder nicht. Allein: das Heranwachsen wird nicht gezeigt, stattdessen findet eine bloße Gegenüberstellung des damals und heute statt, indem die Handlung zwischen 1987 und Gegenwart vor- und zurückspringt und es dem Zuschauer überläßt, sich einen Reim darauf zu machen, wie es nur dazu kommen konnte.

Katya, leicht beeinflußbar, hielt das illegale Schnapsbrennen in Onkels Küche für ein schlimmes Verbrechen, das ihr am Gewissen nagte und Albträume bereitete. Heute spielt sie Nebenbuhlerin mit einen verheirateten Mann. Andrey züchtete Schimmel in einem Glas unterm Bett, war damals schon verzogen und störrisch und spielt heute Videospiele, während er sich kalt und abweisend gegenüber seiner Frau zeigt, die ihn aus unerfindlichen Gründen sehr zu lieben scheint. Und Olga war ein stinkgewöhnliches Kind, abgesehen von ihren durch faschistoide Gedanken ausgelösten Orgasmen seit dem fünften Lebensjahr. Heute leidet sie unter Panikattacken und glaubt ihrem Psychiater nicht, wenn er sagt, sie sei sexuell frustriert. Alle drei waren aspirierende Wladimir Iljitsch Lenin Pionier-Helden (oder so ähnlich). Im Grunde eine Gruppe Pfadfinder sowjetischer Prägung.

Wahrscheinlich muß man tatsächlich in der Sovietunion aufgewachsen sein, um Empathie für diese Figuren zu entwickeln. Natalya Kudryashova (Regie, Drehbuch, Olga erwachsen) verzichtet nämlich darauf, sich oder ihre Charaktere zu erklären. Natürlich weiß jeder von der Auflösung der Sowjetunion. Das war 1991, also in den entscheidenden Lebensjahren der heranwachsenden Pioniere. Da PIONEER HEROES (Pionery-geroi) diese Geschichte aber nicht zeigt, soll der Film also kein historisches Dokument sein. Doch was soll er sein? Als Charakterstudie ist er zu fragmentarisch, zu groß ist der Zeitsprung, zu gering sind die Informationen über jene Studienobjekte. Als Bestandsaufnahme der heutigen russischen Gesellschaft wiederum ist er zu spezifisch. Als politischer Kommentar ist er zu verklärt.

Und dennoch übt PIONEER HEROES eine seltsame Faszination aus, unterstützt durch seine makellose Fotographie architektonischer Räume, die als Verbildlichung der Verwirrung und Entfremdung der Protagonisten fungieren. Es ist ein nostalgischer Abgesang auf verlorene Kindheitsideale, so seltsam sie dem westlichen Zuschauer in diesem Falle auch erscheinen mögen. Ein Heimatfilm eben.

THE VOICE OF WATER: Der blutige Pfad zu Gott

 

Minjon (Hyunri) ist Tochter koreanischer Einwanderer in dritter Generation und voll integriert. Mit Diskriminierung hat sie nicht zu kämpfen, doch ihre schamanischen Familienwurzeln und der seltene Umstand, daß sie noch koreanisch zu sprechen weiß, bringen sie und eine Freundin auf die Idee, Minjon als Seelenheilerin zu verkaufen. Den Problemen ihrer japanischen "Kunden" antwortet sie mit koreanischen Platitüden. Mit der Unterstützung eines Werbefachmanns, eines Redenschreibers und anderer Helfer wächst das kleine Unternehmen schnell zur Sekte heran. Bis Minjon unter der Last der Lüge zusammenbricht, eine Auszeit nimmt und den Schamanismus ihrer Vorfahren studiert, um zu einer besseren, aufrichtigeren geistlichen Führerin zu werden. Doch natürlich klappt nichts wie gedacht, denn nicht alle Beteiligten sind glücklich mit dem Lauf der Dinge, Konflikte kommen auf. Zudem wird Minjons japanischer Vater, zu dem die Beziehung schwierig ist, von Yakuza verfolgt und sucht zu ihrem Leidwesen Unterschlupf in der Sekte.

Sehr reduziert und schnörkellos präsentiert Masashi Yamamoto seine Geschichte gesellschaftlicher Außenseiter, die in ihrer selbstgeschaffenen Spiritualität versuchen, Halt zu finden und dabei teils herbe Rückschläge erleiden. So schnörkellos, daß THE VOICE OF WATER (Mizu no koe wo kiku) teils eine eigene Handschrift vermissen läßt. Sachlichkeit bedeutet hier weitgehenden Verzicht auf Stilmittel aller Art; zuweilen etwas uninspiriert wirkt es, wie von Szene zu Szene geschnitten wird, um die Handlung voranzubringen - mehr aber auch nicht. Zudem zeigt sich das geringe Budget in den flachen, leblos wirkenden DV-Aufnahmen, denen oftmals ein stimmiges Lichtkonzept und Liebe zum Detail fehlen.

Als positiver Nebeneffekt der nüchternen filmischen Herangehensweise darf gelten, daß alle Darsteller eine äußerst natürliche und glaubhafte Darbietung abliefern - von einer komödiantisch überzeichneten Yakuza-Gang einmal abgesehen. Durch den Verzicht auf konventionelle dramaturgische Kniffe bleibt der Ablauf des Geschehens unvorhersehbar; die Durchschlagkraft gewisser Ereignisse leidet jedoch ein wenig unter der emotionalen Distanz zu ihren Beteiligten, welche in Teilen auch der kühlen Inszenierung geschuldet ist. Genausogut mag man es dem Film aber auch anrechnen, daß er eben emotional ambivalent bleibt und, ganz im Gegensatz zu seiner Hauptfigur, die Umstände seiner Charaktere nicht beschönigt und keine einfachen Allgemeinplätze abliefert.

RIVER: Das himmlische Motorrad

 

"Was berührt Sie am meisten in dem Film?" fragt ein Kind den Regisseur nach der Vorstellung. Die Antwort: Es ist die kleine Yangchan Lhamo (im Film irgendwo zwischen fünf und acht Jahre alt), eine persönliche Bekannte, deren schauspielerisches Talent ihn inspiriert habe, einen Film für sie zu schreiben. Sie ist Laie, ohne jegliche Filmerfahrung, doch es ist ihre Darbietung, die den Film tragen muß. Dabei spielt sie sich mehr oder weniger selbst; ihre Figur ist wie sie Teil einer tibetanischen Nomadenfamilie und trägt auch ihren Namen.

Also wieder ein Fall von "Freund des Produzenten/Regisseurs/Darstellers" etc. in einer Kinderrolle. Doch diesmal ist es anders, nicht so furchtbar. Sonthar Gyal, Regisseur und Autor, beweist ein gutes Auge für seine Darstellerin. Mit kindlichem Ernst schmollt sie sich durch weite Teile des Films und schafft es ganz unbeschwert, das Publikum auf ihre Seite zu ziehen.

Yangchan Lhamo lebt mit ihren Filmeltern in einem Zelt irgendwo in der tibetanischen Steppe, wo sie eine Schafherde hüten. Viel Zeit verbringt sie mit ihrem Vater auf dem Motorrad, das nie aufgetankt werden muß. Wahrscheinlich nur eine Lücke im Drehhbuch, für die sich der Autor auf Nachfrage entschuldigt. Als sie eines Tages zur Meditationshöhle des eremitischen Großvaters hinausfahren, schickt der Vater seine Tochter alleine hinein. Er will nicht mit ihm sprechen. Offenbar hegt er einen Groll, den er seiner Familie aber verheimlicht. Die Tochter möchte die Mutter, die nichts davon weiß, nicht belügen, läßt sich vom Vater aber einschüchtern.

Der familiäre Konflikt ist Anfangs- und Endpunkt einer Geschichte, die nicht mehr und nicht weniger ist als der Schnappschuß einer Kindheit in der Abgeschiedenheit der Steppe. Der namensgebende Fluß bezeichnet gleichermaßen den Lauf des Lebens und die Unvermeidbarkeit des Todes, sowie den Verlauf der Filmhandlung selbst. Yangchan Lhamo zeigt sich am glücklichsten, als sie sich um ein verwaistes Lamm kümmern darf; ein Glück, welches endet, als das Lamm groß genug ist und zurück in die Herde entlassen werden muß.

Die Thematik und gemächliche Erzählweise machen RIVER (Gtsngbo) zu vergleichsweise schwerem Kinderstoff. "Empfohlen ab 7 Jahren", sagt das Programm der Berlinale. Empfohlen bis 99+ sollte man hinzufügen. Sonthar Gyal hat den Film gemacht, um sich noch einmal wie ein Kind fühlen zu können - sein Publikum darf das auch.

THE GULLS: Verzweifelt und erhebend

 

Möwen sind die Seelen verstorbener Fischer. So sagt man in Kalmückien, einer Region am kaspischen Meer, die autonomer Teil Russlands ist. Mit dem "ersten kalmückischen Film seit 25 Jahren" möchte uns Regisseurin Ella Manzheeva mit Land und Volk bekanntmachen. Ein dünn besiedeltes Land, ein Außenseiter am Rand Europas, karg und buddhistisch. In diesem isolierten Szenario spielt sich eine Geschichte persönlicher Isolation ab.

Das kalmückische Lebensgefühl ist die Hauptrolle in diesem Stimmungsstück, gespielt von Kamera, Soundtrack und den Kalmücken selbst. Unzufrieden mit der Gesamtsituation ist Klavierlehrerin Elza, gespielt von Evgeniya Mandzhieva in ihrer ersten Filmrolle. Sie möchte weg, kann aber nicht oder hat nicht den Mut. Die Schwiegermutter macht ihr Vorwürfe, weil sie noch kein Kind gezeugt hat - ein Zeichen mangelnder Liebe für ihren Mann, was sonst. Der Mann, ein Fischer, hat ein schwieriges Jahr. Deshalb beschließt er, gemeinsam mit den Kollegen zum illegalen Fischen aufzubrechen. Es ist Winter, Schonzeit und gefährlich. Küstenwache und Klima sind ihnen auf den Fersen.

Eine bedrückender, angespannter Grundton zieht sich durch THE GULLS (Chaiki). In bestechend stilsicher komponierten Bildern und Kamerafahrten gewinnt das Grau der Landschaft eine mystische Qualität. Demgegenüber stehen farbenreiche Innenräume, in denen einer romantisierten Vorstellung nach die Fischersfrauen die Heimkehr ihrer Männer erwarten. Kommt einer mal nicht zurück, so ist es ein Zeichen mangelnder Liebe der Frau - was sonst. Den Soundtrack derweil schert es nicht allzu sehr, ob das Bild gerade neblig, sonnig, mystisch oder real erscheint - stets wird es von einem ominösen Ambient-Geräusch begleitet, welches keine einfache emotionale Kategorisierung erlaubt. Melancholie heißt das große Zauberwort.

Die Wahl des Models Evgeniya Mandzhieva für die Rolle der Hauptfigur mag zunächst untreffend erscheinen. Zu deutlich sticht Elzas Anmut aus der Gewöhnlichkeit der ländlichen Bevölkerung heraus. Und doch wurde Mandzhieva ihres Aussehens wegen gewählt, denn Regisseurin Manzheeva legt ebensoviel Wert auf die Poesie ihrer Erzählung wie auf deren Inhalt. Der Bruch ist zudem sinnig, weil die Geschichte Elza als Außenseiterin behandelt, als Frau, die ihre Lebensweise in Frage stellt. Auf die Frage nach der Zusammenarbeit von Schauspielerin und Regisseurin offenbart uns letztere zudem ihre Variante von Method Acting: Sie habe Mandzhieva vorbereitend händische Arbeit zugeteilt und das gesamte Team angewiesen, nicht mit ihr zu sprechen, um ihre Einsamkeit im Film spürbar zu machen.

Ergebnis aller Mühen ist ein beeindruckend stimmungsvoller und technisch versierter Film, dessen Handlung mehr dahinfließt, als sie voranschreitet. Ob das geschaffene Stimmungsbild der kalmückischen Gesellschaft jedoch akkurat resoniert, ist angesichts der fremdartigen, zauberhaften Inszenierung für Außenstehende kaum einschätzbar. Was im Zweifel bleibt, ist das Portrait einer gewöhnlichen Frau, welches auch über kulturelle Barrieren hinweg überzeugen kann.

THE BODA BODA THIEVES: Tontechniker gesucht

 

Das Boda Boda ist ein Motorradtaxi. Der 15-jährige Abel wird plötzlich zum Kurier, nachdem sein Vater unfallbedingt nicht mehr selber fahren kann. Er genießt zunächst das Freiheitsgefühl, das er aus den Fahrten auf dem feschen Fahrgerät gewinnt, gerät jedoch bald durch eine Vermengung unglücklicher Ereignisse und jugendlichen Übermuts in die denkbar schlimmste Situation: Das Motorrad ist gestohlen, und die Existenz der verschuldeten Familie steht auf dem Spiel. Gemeinsam mit der Mutter wird nun also ganz Kampala nach dem vermißten Vehikel abgesucht. Die Polizei derweil ist mehr daran interessiert, Schmiergelder zu kassieren, als Verbrechen aufzuklären.

Film ist seit seiner Metamorphose aus dem Frühstadium des Stummfilms ein audiovisuelles Medium. Stets wird aber dem Audiopart gemeinhin wenig bewußte Aufmerksamkeit geschenkt, wenngleich auch gerne anerkannt wird, daß die emotionale Komponente eines jeden Films zu wesentlichen Teilen mit ihm steht und fällt. Üblicherweise ist Ton einfach "da", wird passiv konsumiert und als selbstverständlich hingenommen. Erwähnung findet ein Soundtrack für gewöhnlich nur, wenn er als außerordentlich effektiv, spektakulär, lobenswert befunden wird, wie etwa im ansonsten völlig belanglosen Gravity. Erwähnung muß der Soundtrack von THE BODA BODA THIEVES (Abaabi ba boda boda) finden, weil er ein dysfunktionaler, stümperhafter und dem Film unwürdiger Clusterfuck ist.

"Soundtrack" ist hier im technisch-wörtlichen Sinne als "Tonspur" zu verstehen. Es beginnt mit ungläubiger Verwunderung, warum Dialoge offensichtlich nachsynchronisiert wurden. Warum so offensichtlich. Warum ist die Synchronisation teilweise gar nicht synchron. Warum hören wir irgendwann plötzlich Live-Sound vom Set, der uns vorführt, wieviel natürlicher und besser alles klingen könnte. Warum wechselt sich plötzlich jener Live-Sound inklusive Hintergrundrauschen abrupt mit dem trockenen Klang einer Studioaufnahme in ein und demselben Dialog ab.

Die Antwort auf die erste Frage ist natürlich "technische Schwierigkeiten", mitverursacht durch ein zu schmales Budget, woraus die Regisseure keinen Hehl machen - dies trotz Förderung durch den der Berlinale eigenen World Cinema Fund. Soweit Verständnis. Die Antwort auf die weiteren Fragen muß jedoch "technische Inkompetenz" lauten, denn mit den Möglichkeiten digitaler Postproduktion, welche zumindest im Audio-Bereich nicht einmal teuer sein muß, kann es keine ernsthafte Entschuldigung für derart inkohärente Soße geben. Der Film klingt schlicht unfertig.

Möglicherweise ist die Ursache aber auch Indifferenz. Donald Mugisha, eine Hälfte des Regisseurteams "Yes! That's Us", räumt ein, ihm liege schauspielerische Darbietung mehr am Herzen als technische Makellosigkeit. Da ist es schade, daß eben jene Darbietung dadurch untergraben wird, daß viele der Laiendarsteller zwar im Moment der Aufnahme in ihrer natürlichen Umgebung entsprechend natürliche und zufriedenstellende Leistungen vollbringen, sich aber bei der dramatischen Nachstellung der Dialoge in einem Tonstudio auf schmerzhaft offenhörige Weise außerhalb ihres Elements bewegen.

Ja, THE BODA BODA THIEVES hat wichtige Dinge zu sagen, weitaus wichtiger als die technischen Aspekte des Filmemachens. Der Film erzählt von Armut, Kriminalität und Korruption. Doch die Wahl des Spielfilms als vermittelndes Medium, welches nicht nur belehren, sondern auch unterhalten will, gebietet es, das Werk den hierin üblichen Urteilskriterien auszusetzen. Schade, daß die Probleme irritierend genug sind, um den geübten Filmeschauer trotz gekonnter visueller Präsentation vom Inhalt abzulenken. Wenngleich auch das erklärte primäre Zielpublikum nicht internationale Festivalbesucher sind, sondern die heimische Bevölkerung, von welcher der Film erzählt, wäre die dokumentarische Form möglicherweise effektiver gewesen.

600 MILLAS: Slow Afterburner

 

Arnulfo (Kristyan Ferrer), mexikanisch, jung, schmuggelt im Auftrag seines Onkels Waffen aus den USA nach Mexiko. Der ATF*-Beamte Hank Harris (Tim Roth) ist ihm auf der Spur. Nach einer unglücklich verlaufenden Konfrontation weiß sich der verstörte Arnulfo nicht anders zu behelfen, als Harris auf die Rückbank seines Wagens zu fesseln und ihn auf eine Reise mitzunehmen. Man lernt sich kennen.

Das Spektrum der Erzählung ist klein und fokussiert. Sprungbrett der Geschichte ist die Logistik des Waffenschmuggels, von Einkaufstouren mit einem amerikanischen Partner bis zur Grenzüberquerung; das Hauptaugenmerk liegt auf der Beziehung zwischen Schmuggler und Beamtem. Der Ansatz ist beobachtend und wenig aufregend. Die Kamera verhält sich ruhig, meistens. Sie zeigt den Schmuggel und seine Verfolgung als Routine. Akzentuiert gesetzte, wohlkomponierte lange Einstellungen geben uns Gelegenheit, räumliche wie zeitliche Verhältnisse genau aufzunehmen. Wir sehen dem Boss eines Drogenkartells beim Abspülen seiner Teller zu.

Tim Roth ist eine Hausnummer und überzeugend wie immer. Lakonisch und abgebrüht ist seine Darstellung des Fahnders, der sich in einer Situation maximaler Bedrohung wiederfindet und dies doch nur als Teil des Jobs zu begreifen scheint. Kristyan Ferrers Arnulfo wiederum fügt sich in seiner Schnörkellosigkeit hervorragend in den naturalistischen Ton des Films ein. Im Gegensatz zu Harris, dessen Professionalität und Intransparenz uns die Identifikation mit der Figur bewußt erschweren, breitet Arnulfo, der unglückliche Entführer, seine Emotionen offen aus und wird so zum tatsächlichen Protagonisten der Handlung.

Regisseur Gabriel Ripstein selbst bezeichnet seinen Film als hyperrealistisch. Große Aufmerksamkeit liegt auf der Plausibilität des Gezeigten - es ist das erklärte Ziel, jedem Zücken der Waffe, jedem Klingeln des Telefons, jedem Wort und jeder kleinen Handlung Gewicht zu geben. Es funktioniert. 600 MILLAS (600 Miles) bleibt dabei stets ergebnisoffen und somit spannend.

*Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives