DER LETZTE SOMMER DER REICHEN: Kalt, so kalt

 

Peter Kern ist im Berliner Zoo Palast bereits gemeinsam mit Fassbinder ausgebuht worden, weshalb er das Kino sehr schätzt. Dies war freilich vor dem großen Umbau, dem wir seit 2013 einen wirklich fantastischen, großen, modernen Kinosaal mit absolut spitzenmäßigen Sitzen verdanken. Groß, bequem, mit Beinfreiheit und Rücklehnmechanik. In solch entspannter Atmo buht es sich nur ganz beschwerlich - nicht mal auf Kommando. Der Peter, unser Regisseur, wollte dies nämlich gleich vorneweg erledigt haben und rief vor Filmstart zu einer großen Runde Buh auf, welche erst beim vierten Anlauf zufriedenstellend lautstark ausfiel.

Dabei hat DER LETZTE SOMMER DER REICHEN all die Koketterie gar nicht nötig - so schlecht ist der Film nun auch wieder nicht. Nur sehr albern, was sich nicht auf Anhieb erschließt und, so man anfangs noch dem Bären eines bissigen Kapitalisten-Psychogramms aufgesessen ist, leicht zu Irritation führen kann. Ihren Bär läßt sich Voll-Lesbe Hanna von Stezewitz (Amira Casar) gerne im Bordelle irritieren, wo sich unter der Theke auch Auftragsmorde buchen lassen. Praktisch, denn den Abtritt ihres kranken Großvaters, dem alten Nazi, kann die Konzernerbin nicht länger erwarten.

Was folgt, ist ganz großer Unfug in hoher Theatralik, irgendwo in Fantasie-Österreich, wo es Homoehe gibt. Überhaupt wirkt alles wie für die Bühne geschrieben - eine Eigenschaft, die der Film nebst grobthematischer Ähnlichkeiten mit dem im Vorjahr erschienenen, jedoch um einiges wortgewandteren Zeit der Kannibalen gemein hat.

Dem Vorwurf der Unglaubwürdigkeit entzieht sich der Film durch eben seine Albernheit. Das Gefühl, ernst genommen werden zu wollen, haftet ihm nicht an. Und doch gibt es Aspekte, die sich mit dieser Leichfüßigkeit nicht ganz vertragen wollen. Hanna wird zugleich als dekadentes, gewissenloses Geldmonster sowie als Opfer familiärer Entfremdung (teilverursacht durch Elterntod) und der zynisch kannibalistischen Sozialstruktur der High Society aufgeführt, in die sie aufgewachsen ist. An Hanna haftet die gesamte Handlung, und doch ist sie nur Frau in einer Buhmannrolle. Der Haß auf das System, dessen Gallionsfigur sie selbst ist, bestimmt ihr Handeln und wird folgerichtig zum Katalysator ihres Untergangs.

Zwischendurch ist aber Zeit für allerhand Schabernack und Seitenhiebe. Ein vertrottelter Killer, eine gedemütigte Domina, ominöse Nonnen. Wohin das alles führt, ist erfrischend unklar. Nicht ganz so erfrischend ist die Unklarheit mancher Dialoge, welche jedoch weniger dem Akzent der drolligen Ösis und vielmehr dem oft rudimentären Sounddesign geschuldet ist. DER LETZTE SOMMER DER REICHEN protzt nicht mit opulenter Präsentation - geradezu bescheiden ist der Blick in den langen dunklen Fünfuhrtee der Kapitalistenseele.

THE FORBIDDEN ROOM: Menstruation im Wandel der Zeit

 

Udo Kier hat im Berliner Delphi sowohl Schlingensief als auch Fassbinder kennengelernt, weshalb er das Kino sehr schätzt. Zweiter Grund: Das Delphi ist ein Kino, und kein Supermarkt. Der geneigte Kritiker (ich) mag das Delphi nicht, wegen seines unbequemen Sitzflächengefälles.

THE FORBIDDEN ROOM ist filmische Resterampe. Entstanden aus der Idee, eine Reihe verloren gegangener Filme zu rekreieren, manchmal aus einer Beschreibung in einem Filmmagazin, oft aber mit nicht mehr als einem Titel als Ausgangspunkt. Ein ganz unbeschämtes Kunstprojekt also, dessen metanarrative Elemente mit seinem Inhalt um Aufmerksamkeit konkurrieren. Die Faust des Autors ist omnipräsent.

Früher Höhepunkt ist die Arschsequenz, zufällig auch eine der wenigen Szenen mit Udo Kier. Eine wundervolle Musiknummer, die sich in ihrer visuellen Form (Montage) nicht vom Gesamtwerk abhebt. Ja, der Film ist strukturell unkonventionell. Ein farbenfroher Stummfilm, der sich nichtsdestotrotz des gesprochenen Wortes bedient und einen unheilvoll programmatischen Soundtrack aufweist. Betörend die Art, wie kontrastreiche Bilder hinter falschen Vintage-Kratzern konstant ineinander morphen.

Warum reden wir so viel von Stil, und so wenig von Substanz? Schlechtes Zeichen? Nicht unbedingt - aber alles schon einmal gehört: Der Holzfäller Cesare will die entführte Margot aus den Klauen einer Diebesbande, der "Red Wolves" befreien - was beinahe als Verbildlichung von Menstruationsschmerzen der Titel des Films geworden wäre, wie uns Regisseur Guy Maddin verrät. Sie soll dem "Valcano" geopfert werden, kann sich aber in ein anderes Leben träumen, wo sie vergessen hat, wer sie ist. Derweil rekrutiert Cesare eine Gruppe Mutiger, um in die Höhle Mergels vorzudringen und muß letztlich doch alleine gehen. Er findet sich in einem U-Boot wieder. Hier ist die Luft knapp; daher behilft sich die Besatzung mit Pfannkuchen. Ein abgetrennter Schnurrbart erzählt Geschichten aus dem Jenseits. Und so weiter und so fort.

Bevor Udo Kier keine Zeit mehr hat, verrät er uns noch, daß hier ursprünglich einmal 100 Kurzfilme geplant waren. 25 davon wurden abgedreht, dann sei irgendwas passiert, und nun also stattdessen THE FORBIDDEN ROOM. Eine Traumsequenz wird in die nächste verschachtelt, und wir bezeugen in 128 Minuten eine Reihe vage zusammenhängender Szenen. Alles dies geschieht in der Tonalität humoristischer Phantasmagorie, die dem Kritiker freie Fahrt in die Sphären prätentiösen Geschwurbels einräumt. Es hält nicht gänzlich stand: Der Film ist ein wenig zu lang.

Die letzte Fußnote kommt von Evan Johnson, Koregisseur: Man habe eine klassische Erzählstruktur aus drei Akten angestrebt und sogar ein Lehrbuch dazu gelesen. Es hat nicht funktioniert, andere Inspirationen waren stärker. Irgendwie darf man froh sein - THE FORBIDDEN ROOM funktioniert als filmischer Außenseiter wahrscheinlich am besten. Ohne allumfassende Geschichte, um das Geschehen beisammen zu halten - von einer Anleitung zum Baden einmal abgesehen - dafür mit vielen kleinen, schönen Momenten, von denen unweigerlich einige stärker resonieren als andere.

Reiseführer Nürnberg - Hof

 

Publicity-Gründe erfordern immer wieder Reisen in die Hauptstadt. Auf solchen kommt man dann, von Süden aus und mit viel Zeit, an der Bahnstrecke Nürnberg-Hof vorbei. Somit schließt die Strecke freilich nicht gänzlich zur Hauptstadt auf, aber sie bringt jene näher, semantisch betrachtet. Mit einem Regionalexpress der Deutschen Bahn dauert die 135km lange Strecke 1h 36min. Alles klar, pro Minute ein Kilometer, denkt man. Aber falsch gedacht, es sei denn, man denkt in Industrieminuten.

Aber auch für jene, die nicht zum technischen Personal der Deutschen Bahn gehören, ist die Strecke genießbar. Ob sie tatsächlich zu den schönsten Bahnstrecken Deutschlands gehört, mag uns ein Blick auf die Internetseite der ARD, die sich offenbar genug für diese Sendung schämt, um sie nicht aufzulisten, nicht verraten. Allerdings soll hier ja unabhängig bewertet werden, und somit kann der Strecke Nürnberg-Hof, von ihren Start- und Zielpunkten einmal abgesehen, eine klare Empfehlung ausgesprochen werden, auch wenn die Pegnitz freilich nicht der Rhein ist. Wenn man die Pegnitz, die sich in entgegengesetzter Richtung unserer Fahrt in mathematischer Scharfsinnigkeit mit der Rednitz zur Regnitz vermengt, bis zu ihrem Ursprung hinaufgefahren ist, wird aus dem Fluß Pegnitz plötzlich die Stadt Pegnitz und wir haben einen unserer wenigen Zwischenstops erreicht, der mit seiner Minute (nicht Industrie) kurz genug ist, um nicht auszusteigen und die Stadt zu erkunden. In Sachen Namensgebung haben uns die Bayern derweil eines bewiesen: Entweder, wir haben sie unterschätzt, oder aber wir haben sie überschätzt.

Wer aber einmal nicht auf der Durchreise ist und ein wenig mehr Zeit hat, der sollte sich die Strecke sparen und einfach mal in Nürnberg bleiben. Für Hof reicht indes die Durchreise. Dazu später mehr.

Gröschtl ist eine fränkische Verniedlichung des Begriffes »Resteteller«. Wer als dummer Tourist auf der Speisekarte liest: »Gröschtl mit ...« und sich fragt, was denn nun dieses Gröschtl sei, dem all die bodenständig-leckeren Beilagen beiliegen, dem sei versichert: das Gröschtl ist die Beilage. Und brauchen wir neben Mannheim eigentlich noch eine Stadt, die stolz auf ihre Lebkuchen ist? Lebkuchensoße? Dies ist selbsverständlich keine Frage, die es sich dialektisch zu erörtern lohnt. Um Himmels Willen, nein. Selbiges gilt übrigens für die gekürzten Thüringer Bratwürste, die sich ortstypisch »Nürnberger« nennen.

Schrittweise erstetzt das Fahrrad in deutschen Regionalzügen den Laptop. Nur selten noch hört man im Zug die Durchsage, die Abfahrt habe sich aufgrund hohen Laptopaufkommens am Bahnhof verspätet.

Hof war lange Zeit das vitale Bindeglied der beiden intermetropolitanen Nahverkehrstrecken Nürnberg-Hof und Hof-Leipzig, in welchem einen die Bahn zuweilen 57min warten ließ, doch inzwischen geht es zwischen Nürnberg und Leipzig standesgemäß über Chemnitz oder Zwickau. 57min sind im Gegensatz zum Pegnitz-Aufenthalt jedoch ein Zeitrahmen, mit dem sich arbeiten läßt.

Zu sagen gibt es nicht viel: Mit der Topographie der ehemaligen Beinahe-Grenzstadt geht es ebenso bergab wie mit ihrer Relevanz. Es gibt in Bahnhofsnähe das »Cabaret Petit Paris«, sehnsüchtiger, wenngleich zurückhaltender Ruf nach (kleiner) Größe, Charme und Anerkennung. Gerne setzen die Bewohner Hofs ihrem Schicksal hier und da einen bunten Häuseranstrich entgegen. In der DDR wäre so etwas undenkbar gewesen.

Zeit für eine große Geschichtsstunde im Pegnitz-Rednitz-Regnitz-Delta haben sich Autoren, Filmemacher und Personen öffentlichen Interesses zuhauf genommen, als es mal wieder um die Nazis ging. Nürnberg – Nazis, das ist heute jedem klar, gehen zusammen wie Milz und Brandt. Und auch der Götz von Berlichingen aus dem benachbarten Ansbach, heute ebenfalls als Bahnstation zu Bekanntheit gelangt, hatte seine liebe Not mit den netten Nürnen vom Berg. Wie soviele deutsche Städte ruht sich aber auch Nürnberg heutzutage auf seinem zweifelhaften geschichtlichen Ruf aus. Außer dem Rock im Park finden hier keine größeren Rockfestivals mehr statt.

Die Sache mit den Eisbären. Berlin hat sich den Bären ja quasi auf die Flagge geschrieben. Oder gemalt. Nürnberg hat auch einen Zoo. Dieser ist um einiges kleiner als beide Berliner Zoos zusammen, dafür sind darin aber auch mehr kleine Menschen unterwegs. Es gibt den Kinderzoo im Zoo mit so exotischen Genrevertretern wie Ziegen und Hühnern. Die Störche im Zoo sind wildlebend, auch darauf ist man stolz. Es sind die kleinen Freuden.

Dieser Artikel ist ALT. Er erschien zuletzt im nicht mehr existenten Lifestyle-Blog remede.de.

Archive - ᐱ☓⌽⨇

 

Auf AXIOM verknüpfen Archive das Ende einer Beziehung mit dem Ende einer Gesellschaft. OK.

Lassen wir Relativität und Objektivismus beiseite: Archive waren fortschreitend langweilig geworden. Da ist das 2014 erschienene Album AXIOM eine gewaltige Überraschung. Brilliant komponiert, atmosphärisch dicht, spannend und eines Zweizeilers in einer nach Los zusammengewürfelten Top X des Jahres unwürdig. Ein "Konzeptalbum", worauf leider hingewiesen werden muß, da so viele Alben kein Konzept haben, obwohl dies eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Ein Soundtrack sowohl fürs Kopfkino als auch für den eigenen Begleitfilm, ein ausgedehntes Musikvideo in Albumlänge, das seine ganz eigene Geschichte erzählt. Daher das gesellschaftliche Ende.

Die Tracklist gibt sieben Titel an, es befindet sich aber effektiv nur ein Stück auf dem Album. Hier gibt es keine Pausen, und das ist richtig so - die Dramaturgie des Albums verlangt danach, diesem in einem Zug, von Anfang bis Ende, zuzuhören. Ein solitär gehörter Titel ist nur eine Hörprobe, ein Teaser. Wer dem Spannungsbogen ordnungsgemäß folgt, wird mit schön gesetzten Höhepunkten und wiederkehrenden Motiven belohnt.

Es beginnt mit viel Emotion, ruhig und balladesk. Gesang und Streicher, die im Anschluß in einer ausgedehnten Kakophonie aus Kirchenglocken ertränkt werden. Es sind diese ersten vier bis fünf Minuten des Titelstückes AXIOM, die den Ton angeben. Klanglich herrscht fortan das vor, wofür wir in rezensiver Willkür das Wort "Psychedelectric" erfinden, stets untermalt von einem düster brodelnden Grundton und weniger vom Schlagzeug vorangetrieben, als von einer musikalisch akzentuierten Erzählung. Wir hören viel von Schmerz und Konflikt, im Text und in den Stimmen. Dieser sind es vier an der Zahl - die für Archive nicht unübliche Diversität. Die Figuren stehen im Dialog und haben sich wenig Nettes zu sagen, bis irgendwann Schluß ist.

Das Ende ist seltsam versöhnlich.
"We're not talking anymore
Free and happy to ignore"

AXIOM ist nicht frei von Pathos, was den intellektuell vorangeschrittenen Kritiker üblicherweise sofort zur elaborierten Verbalkotze verführt. Wer nun "Distorted Angels" in die Internetsuchmaschine der Wahl eingibt, findet Archive. Ist aber in Ordnung, denn der gelegentliche Anflug lyrischer Schwäche wird von einem starken kompositorischen Gerüst getragen. Wir rümpfen also kurz die Nase, erkennen dies aber schnell als überheblich an und tun so, als hätten wir nur mal eben niesen müssen. Wahrscheinlich, weil uns die Emotionen ins Riechorgan gefahren sind. Schuld sind die Hingabe der Darbietung und ein paar tolle Melodien. Zudem tut der Film zur Musik sein Bestes, die klischierten Motive zu verarbeiten.

Im Film herrscht Bürgerkrieg. Ein rebellischer Untergrund stemmt sich gegen ein totalitäres System, das die Menschen mit einer Art Gehirnwäsche und Geburtenkontrolle im Griff hat. Das alles nach dem 3. Weltkrieg, "the war to end all wars". Das große Ganze bietet zugegeben wenig Originalität. Diese steckt dann erfreulicherweise in den Details. Es beginnt mit einem Gebärdenkonzert für Taube, ausgeführt von einem Blinden. Die Taubheit ist selbstverursacht und dient der Flucht vor dem unterdrückenden Klang der Glocke. Ein Kopfschuß führt nicht zum Tod, sondern zu plötzlich wiederkehrender Sinneswahrnehmung, was nur für Menschen in dieser Welt noch schlimmer ist. Der innere Tod. So tiefgründig.

Später sehen wir eine Foltermethode, die glücklicherweise von keinem Kontrollgremium gesichtet wurde, denn das Albumcover ist frei von gestalterisch lästigen Hinweisen zur Altersfreigabe. Der Messias trägt drei Armbanduhren, zur Sicherheit. Das ganze ist hervorragend gefilmt und natürlich schwarzweiß.

Die Reise ist nach knapp 40 Minuten zu Ende und damit ganz deutlich Archives kürzestes Album. Es tut der Scheibe gut. Hochkonzentriert, frei von Speck, frei von Langeweile.

Jun Togawa

 

Japan, Mitte 80er. Jun Togawa [戸川純] ist ein alter Hut aus einem fernen Land und verdient unsere volle Aufmerksamkeit als Musikenthusiasten.

Die Eckdaten: Geboren 1961, kurz darauf nebst Schauspielerei als Sängerin in mehreren Gruppen tätig: 1980 zunächst als Nebenchanteuse in Halmens [ハルメンズ], nach deren Auflösung 1982 mit Guernica [ゲルニカ], ab 1984 außerdem mit Yapoos [ヤプーズ] und als Solokünstlerin, sowie gelegentlich als Gaststimme in diversen anderen Formationen. Letztes Album mit Yapoos 1995, danach kaum Bandaktivitäten. Ihr letztes Soloalbum erscheint 2004, seither ist sie nur gelegentlich als Kollaborateuse tätig. Musikgenre: Jun Togawa.

Tatsächlich deckt Frau Togawa musikalisch ein breites Spektrum zwischen 80er New Wave, Cabaret, Pseudo-Pop, Jazz, Folklore usw. ab und wird darum der Einfachheit halber gerne unter Avantgarde abgeheftet. Die Konstanten über alle Jahre und Projekte hinweg sind ihre Stimme und Persönlichkeit, besser: ihre multiplen Persönlichkeiten. Denn sie ist nicht einfach nur Sängerin, sondern Darstellerin von der Sorte, die ganz mit ihrer Kunstfigur verschmilzt. Es ist jene Figur, die dabei häufig und auch gerne innerhalb eines Stückes zwischen kindlich, wahnwitzig, wütend, gepeinigt, exstatisch und schlicht theatralisch oszilliert. Medium dieser Zustände ist, nebst einer immersiven Live-Darbietung durch Mimik und Körpersprache, ihre Stimme, die nahtlos von quietschend über kreischend zu opernhaften Vibrati wechselt, daß es eine Freude ist. Jun Togawa ist eine hervorragende Sängerin, die es bevorzugt, über weite Strecken nichts davon preiszugeben.

Wie bei Musikkritik üblich, ist alles Gefasel hinfällig, wenn die Höprobe trumpft, und das tut sie immer. Darum sei dieser knappe Text auch nur als freundlicher Hinweis zu verstehen.

Wozu die Worte? Die emotionale Reise durch Togawas Gemütszustände ist ohne Begleittext und frei von Sprachverständnis nachvollziehbar, doch aller guten Teile sind drei. Beim nächsten Mal: Gedichtinterpretationen. Die Gedichte sind Liedtexte. Wer hier Expeditionen ins Widerwärtige erwartet, liegt richtig.

Le Big Mac

 

Jeder, und damit sind alle gemeint, hat einmal Lust auf sogenanntes »Junk Food«, zu deutsch »Schrottessen«. Das ist Tatsache. Jeder weiß außerdem, daß dieses total ungesund ist. Beeindruckende Studien von großer Popularität (Stichwort »Kinofilm«) haben bewiesen, daß der ausschließliche Verzehr einer Sorte Essen über mehrere Wochen zu Gesundheitsstörungen führen kann. Das gilt freileich für Junk Food, Junk Drink oder Bärlauch gleichermaßen.

Diversität ist also angesagt, was angesichts des nahezu unerschöpflichen Warenaufgebots im Bereich Lebensmittel unmittelbar Entscheidungsprobleme erzeugt. Um dem unmündigen Bürger die Unterscheidbarkeit von guten und bösen Speisen zu erleichtern, gibt es die halbherzig verfolgte Idee der Kennzeichnung der Produkte durch Ampelfarben. Womit gemeint ist, daß der Deutsche Bundestag eine entsprechende Vorschrift dereinst mehrheitlich ablehnte und Lebensmittelhersteller nun freiwillig auf Ampelbasis kennzeichnen dürfen. Die geltende, von der Lebensmittelindustrie selbst erarbeitete und somit kernkompetente GDA-Kennzeichnung (»Guideline Daily Amount«) hingegen versorgt den Verbraucher nun schon seit Jahren mit verläßlichen Informationen, wie gut welches Produkt welchen Tagesbedarf an welchen Stoffen deckt und ist damit sehr hilfreich.

Besonders fortschrittlich und geradezu vorbildlich zeigte sich hier die beliebte schottische Restaurantkette McDonalds und verband jenes GDA-Kennzeichungssystem gekonnt mit dem Ampelsystem, um somit doppelt so informativ zu sein. Eiweiß ist demnach besonders schädlich, gefolgt vom mittelschädlichen Fett. Kohlenhydrate hingegen sind generell gesund. Ein Big Mac beispielsweise enthält besonders viel schädliches Eiweiß und Fett, aber nur wenig von den guten Kohlenhydraten. Die gestrichelte Linie zeigt hierbei die kritische Masse relativ zu einer unbekannten Nenngröße an.

Dreifach informativ wird die McDonalds Kennzeichung durch das einzigartige »Genderizing« bestimmter Essensbestandteile. Als besonders weiblich gelten Kilokalorien, männlich ist vor allem Kochsalz. Der klassische Big Mac ist der Grafik zufolge also besonders männlich. Frauen jedoch müssen schon etwa vier Big Macs essen, um ihren Tagesbedarf an Weiblichkeit zu decken. Die besondere Relevanz der Kennzeichnung für Frauen wird mit demselben leicht verständlichen Symbol deutlich gemacht, das schon im Genderizing der McDonalds Toiletten erfolgreich erprobt wurde. Somit ist der ernährungsbewußten Pubertierenden wie der hippen Seniorin gleichermaßen klargemacht: sorge dich nicht, wir kümmern uns um dich. Ein groß abgedrucktes i-Symbol rückt selbstbewußt nochmals den besonderen Informationswert der McDonalds-Kennzeichnung in den Vordergrund.

Angesichts solch ermutigender Vorstöße seitens der Industrie sind eventuelle Versäumnisse auf politischer Ebene leicht verschmerzbar. Auch kann es niemandem ernsthaft ein Anliegen sein, in sozialistische Regulierungsrepressalien zu verfallen, wie dies in der Schweiz erwogen wird oder wurde. Von der Ampelpflicht zum Minarettverbot ist es ein kleiner Schritt.

Dieser Artikel ist ALT. Er erschien zuletzt nicht im unveröffentlichten Lifestyle-Magazin »remède de la femme«.

Die 10 sinnlosesten Top 10 2014

 

10. GOTY

Zum einen ist nichts herausragend Lobenswertes erschienen, zum anderen waren Coautoren des Blocks zu faul, ihre Einreichungen rechtzeitig einzureichen, was die ganze Chose reichlich von Sinn befreit. Außerdem hat eh niemand Zeit, den ganzen Kram hinreichend zu zocken. Fürwahr eine traurige Bilanz. GOTY steht für Game of the Year.


9. Top 10 Listen

Der rekursive Witz wird nie alt; er war es schon immer. Außerdem alles Ansichtssache. Alles. Von daher nimmt die Liste in der Liste zu Recht einen prominenten Platz in sich selbst ein.


8. Neujahresvorsätze

Da mit selbigen üblicherweise keine Einhaltungserwartungen verknüpft werden, sind diese zwar sinnlos, aber auch eine gute Gelegenheit, eine Reihe Allerweltsversprechen abzusondern. Vorschau auf den Block 2015:

Mehr als drei Beiträge pro Jahr. Hier hat es 2014 ein wenig geschwächelt. Da dieser Beitrag aber dazuzählt, ist Optimismus real.

Loslösung vom Blödel-Image. Da wird es schon schwieriger. Denn nichts liegt dem Block ferner, als stammtischartige Bierernstigkeit. Im Zweifel zählt der Gedanke.


7. Oshimen (teh bias)

Srsly, WTF.


6. Musik

Kunst ist subjektiv, Musik ganz besonders. Denn die technischen Kriterien sind minimal und in professionellen (und vielen unprofessionellen) Produktionen ohnehin stimmig und daher nicht ausschlaggebend. Ergebnis: keine einzige Top 10 Liste der besten Stücke/Alben innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, eines Genres, einer Herkunft oder was auch immer hat jemals jemand anderes als den Verfasser selbst angesprochen. Das ist Fakt.


5. LLLL - Paradice

Das lang ersehnte erste Album der völlig unbekannten japanischen Schlafzimmerelektrogruppe LLLL, eine Zusammenfassung bisheriger EP-Titel und ein paar neuer Titel, krankt an technischen Kriterien, welche ihm eine höhere Platzierung unmöglich machen. Konkret: am Mastering - es gab keines. Die Lautstärke springt zwischen den Titeln auf und ab, daß es ein einziges nervtötendes Kuddelmuddel ist. Die Lösung: CD* rippen (oder als FLAC runterladen), Audiobearbeitungsprogramm öffnen, alle Titel vergleichen, den Job des nichtexistenten Produzenten nachholen und die Lautstärken angleichen. Anschließend wahlweise auf einen alten Rohling brennen, der noch aus Großvaters Nachlaß übrig ist, oder in das Musikformat der Wahl für den mobilen Einsatz umwandeln.

Der Lohn der Mühe? Eines der unbestreitbar besten Alben des Jahres. Wabernde Synthieriffs in Endzeitstimmung, was kann es schöneres geben? Die Antwort: vier weitere Alben des Jahres.

*Limitiert auf 250 Stück.


4. Mica Levi - Under The Skin

Der Soundtrack zu Scarlett Johanssons in kritischer Hinsicht zwiespältiger Nacktparade ist der beste des Jahres, und alle sind sich ausnahmsweise einig, was die hohe Platzierung nicht ganz so unsinnig macht, wie es dem ignoranten Pöbel, der anderer Meinung ist, erscheinen mag.

In der Tat läßt sich einfach behaupten, daß der Soundtrack der Britin zur Wirkung des Films beigetragen hat wie kein anderer seit Vangelis' Blade Runner. Zum einen, weil sich alles einfach behaupten läßt, zum anderen, weil dem Salzkorn ein Fünkchen Wahrheit innewohnt. Und wenn es schon der Film selbst, so sehenswert er ist, ganz knapp nicht in die Top 10 schafft, so soll er wenigstens auf diesem Wege lobend Erwähnung finden.


3. The Noisy Freaks - Straight Life

Dramaturgie spielt auf jedem herausragenden Album eine Rolle. The Noisy Freaks lassen sich einen Tick der Uhr zu viel Zeit, die schweren Geschütze auszufahren. Dann ist aber kein Halten mehr. Eine Hälfte funky Beatz, ein Drittel derbe BEATZ, ein Viertel pure Kunst aus Beatzzzz. Nach der Deprischeiße der Plätze 4 und 5 endlich mal ein Album, das einfach nur Spaß macht. Herkunft: Frankreich. Muß man mehr dazu sagen? Nö.

Höchstens noch eines für die Insider: Barmen Inferno. Selection. FUCK.


2. Sequin - Penelope

Endlich hat mal wieder ein Portugacke (-gackin) etwas erreicht, so sinnlos es auch sei. Der letzte namentlich nennenswerte war Ferdinand Magellan, und das ist ewig her.

Dieses Album gewinnt nicht durch herausragende künstlerische Leistung, sondern durch Konsistenz. Öliger Synthpop mit Weib und Gesang geht halt immer.


1. Rainbow99 - Seoul

Nichts hat jemals die Erstplatzierung in irgendeiner Liste verdient. Wer oder was ist Rainbow99? Wo ist Seoul? Wie klingt das alles? Fragen über Fragen, auf die es keine Antwort gibt.

Ein bärtiger Musiker aus Südkorea hat ein Erocktronica Album mit Postnoise-Einflüssen gemacht. Es ist gut.