Turm

 

Diese Nacht noch müßte getürmt werden. Nichts sonst war wichtig. Die Welt brannte.

Stein um Stein erinnern wir uns an die längst vergangen geglaubten Melodien unserer Kindertage. Das Material haben andere erfunden, wir haben nur die Pflicht, es zum Guten einzusetzen. Pflicht. Keiner kommt an uns vorbei. Keiner darf. Wir möchten nicht bestreiten, wie in uns die Leidenschaft brennt, aber noch feuriger brennt die Arbeit, wenn auch vorwiegend auf vegetativer Ebene.
Die das Material schufen, schufen auch den immerwährenden Konflikt. Stein um Stein, setzen wir es ein! Latte an den Pfosten! Stütze an den Balkan! In unserer Freizeit sind wir alle Menschen.

Die Scharen waren unüberschaubar. Die Horden horteten sich am Horizont in horrender Zahl. Zahltag!

Es mußten mehr Büros gebaut werden. Das waren verdammte Arbeitstiere, unsere Leute, ein einziger Orkan an Arbeitsorganen. Der Gegner: ein Orchester gurgelnder Orgelpfeifen. Sie sollten alle untergehen. Das hier war nicht Marktwirtschaft, das hier – war Krieg. Die letzte Verteidigungslinie einer aufs notwendige geschrumpften Welt, die von Ungläubigern überrannt wurde. Bittsteller, Bodenkriecher, Börsenmakler bildeten eine massige Ansammlung maßloser Anmaßung.

Ab dem vierten Stock schon hat man einen guten Überblick, im achten beginnt die Haftung zu schrumpfen, sowohl im Rechts- wie im Bodenbereich, aber erst im dreizehnten hat man seinen Frieden. Darüber hinaus – you name it. An der Basis: Werte und wuchtige Sprüche, die Markenzeichen wahrer Helden. Findige Fallensteller mit Vogelperspektive waren wir, kein Vergleich mit den Bittstellern da unten. Sie lenkte nur der kollektive Sturm nach vorn, dabei stets fremdgelenkt und ungelenk bis hin zur Trägheit. Für sie war alles so arrangiert worden, von Puppenspielern wie uns, der Konkurrenz. Nur wenige wehrten sich, und das meist nur, wenn wir unvorsichtig waren und sie hier und da in die völlige Perspektivlosigkeit stürzten. Doch solange man ihnen die Phantasmagorie eines schimmernden Portals in eine bessere Welt vorhielt, ließen sie sich bereitwillig im Zickzack umherschicken, bis sie zusammenbrachen. Und wenn es soweit war, zierten wir uns nicht, unseren Gewinn aus ihnen zu schlagen.

Und wieder schoß ein neues Monument unserer Macht wie Fungus aus dem Boden, bereit, als Protektorat gegen das Proletariat zu fungieren. Der Wandel vom Wach- zum Büroturm hatte nie stattgefunden. Türme dienten seit je der Abwehr von Andersdenken, seien die Unterschiede nun ethnisch, religiös oder monetär.

Einundvierzig, nur kurz vor dem angestrebten Frühruhestand, kam das Ende. Die Kunden waren robuster geworden; der Krieg fand jetzt woanders statt. Als der Schick unserer engen, verschlungenen Passagen ihren Höhepunkt erreicht hatte, zogen sie unbeeindruckt an ihnen vorbei. Schließlich kamen die Anschläge. Brennende Gebäudeumrisse und zertretene Leichen öffneten die Sicht auf eine prächtige Landschaft, die achtlos abgeblendet gewesen war. Sonnenaufgang. Ein Teil der Welt ging wieder seinen gewohnten Gang. Friedlich versanken wir im Schlaf, in unseren Köpfen nichts als Schönheit.

Die Zeit danach. Wir waren zurück auf Null. Doch ein Zocker verzagt nie. Neuer Schauplatz, neue Mittel, neue Strategie. Gleiches Geschäft. Größer, schneller, mächtiger. Diese Nacht noch müßte getürmt werden.