THE GULLS: Verzweifelt und erhebend

 

Möwen sind die Seelen verstorbener Fischer. So sagt man in Kalmückien, einer Region am kaspischen Meer, die autonomer Teil Russlands ist. Mit dem "ersten kalmückischen Film seit 25 Jahren" möchte uns Regisseurin Ella Manzheeva mit Land und Volk bekanntmachen. Ein dünn besiedeltes Land, ein Außenseiter am Rand Europas, karg und buddhistisch. In diesem isolierten Szenario spielt sich eine Geschichte persönlicher Isolation ab.

Das kalmückische Lebensgefühl ist die Hauptrolle in diesem Stimmungsstück, gespielt von Kamera, Soundtrack und den Kalmücken selbst. Unzufrieden mit der Gesamtsituation ist Klavierlehrerin Elza, gespielt von Evgeniya Mandzhieva in ihrer ersten Filmrolle. Sie möchte weg, kann aber nicht oder hat nicht den Mut. Die Schwiegermutter macht ihr Vorwürfe, weil sie noch kein Kind gezeugt hat - ein Zeichen mangelnder Liebe für ihren Mann, was sonst. Der Mann, ein Fischer, hat ein schwieriges Jahr. Deshalb beschließt er, gemeinsam mit den Kollegen zum illegalen Fischen aufzubrechen. Es ist Winter, Schonzeit und gefährlich. Küstenwache und Klima sind ihnen auf den Fersen.

Eine bedrückender, angespannter Grundton zieht sich durch THE GULLS (Chaiki). In bestechend stilsicher komponierten Bildern und Kamerafahrten gewinnt das Grau der Landschaft eine mystische Qualität. Demgegenüber stehen farbenreiche Innenräume, in denen einer romantisierten Vorstellung nach die Fischersfrauen die Heimkehr ihrer Männer erwarten. Kommt einer mal nicht zurück, so ist es ein Zeichen mangelnder Liebe der Frau - was sonst. Den Soundtrack derweil schert es nicht allzu sehr, ob das Bild gerade neblig, sonnig, mystisch oder real erscheint - stets wird es von einem ominösen Ambient-Geräusch begleitet, welches keine einfache emotionale Kategorisierung erlaubt. Melancholie heißt das große Zauberwort.

Die Wahl des Models Evgeniya Mandzhieva für die Rolle der Hauptfigur mag zunächst untreffend erscheinen. Zu deutlich sticht Elzas Anmut aus der Gewöhnlichkeit der ländlichen Bevölkerung heraus. Und doch wurde Mandzhieva ihres Aussehens wegen gewählt, denn Regisseurin Manzheeva legt ebensoviel Wert auf die Poesie ihrer Erzählung wie auf deren Inhalt. Der Bruch ist zudem sinnig, weil die Geschichte Elza als Außenseiterin behandelt, als Frau, die ihre Lebensweise in Frage stellt. Auf die Frage nach der Zusammenarbeit von Schauspielerin und Regisseurin offenbart uns letztere zudem ihre Variante von Method Acting: Sie habe Mandzhieva vorbereitend händische Arbeit zugeteilt und das gesamte Team angewiesen, nicht mit ihr zu sprechen, um ihre Einsamkeit im Film spürbar zu machen.

Ergebnis aller Mühen ist ein beeindruckend stimmungsvoller und technisch versierter Film, dessen Handlung mehr dahinfließt, als sie voranschreitet. Ob das geschaffene Stimmungsbild der kalmückischen Gesellschaft jedoch akkurat resoniert, ist angesichts der fremdartigen, zauberhaften Inszenierung für Außenstehende kaum einschätzbar. Was im Zweifel bleibt, ist das Portrait einer gewöhnlichen Frau, welches auch über kulturelle Barrieren hinweg überzeugen kann.