Über den Tellerrand

 

Ich werde gerade mit Essen begonnen haben, als das Telefon klingeln wird. Ich werde mir einen großen Löffel zur Hand nehmen und zum Tellerrand hinüberpaddeln. Dort werde ich dann sitzen und warten, bis das Telefon zu klingeln aufhört. Doch es wird nicht aufhören, jemand will mich mit Nachdruck zum Gespräch auffordern, die Person aber bleibt im Dunkeln. Meine Wut formt einen Klumpen im Hals, welcher sich bald als saftiges Crouton in der Suppe wiederfinden wird. Ich kann nicht wissen, wer es ist, ohne der unbekannten, in jedem Fall aber verhaßten Person meine mentale Niederlage einzugestehen. So ergibt sich aus jedem klingelnden Telefon ein Paradoxon Politikum, besser bekannt als Loch im Raumzeitgefüge. Dies Ärgernis schwerwiegender Art wurde schon von den Römern als Germanicus-Loch definiert. Es bewirkt einen Wutpegel, der ultimativ durch einen sich entfernenden Pfropfen gesenkt werden muss. Die dabei entstehenden Strömungen erreichen zuweilen gefährliche Turbulenzen.

Ich stelle meine Stirn auf rot, als ich mit glühender Faust rachetrunken und verbal auf den Angreifer einprügele. Ich lasse meinen gesamten ekstatisch angehäuften Dissenz vom Stapel, bis durch die Leitung nur noch ein weinerliches Röcheln zu vernehmen ist. Auf einmal tut es mir leid. Ich nehme mich zurück und bereue diesen Hinweis auf Anteilnahme sofort. Also lege ich noch mal los, heftiger, Stoß um Stoß. Die Welle der Gewalt bauscht sich auf und droht zu einer Massivität mit Potential zur Überschwappung zu gelangen. Im Zuge ihrer rasenden, zentrisch extrudierenden Fahrt nimmt ihre Toleranzkurve immer mehr ab, bis sie, am Rand angekommen, schließlich gewaltig genug ist, die Oberflächenspannung zu durchbrechen und alles, einschließlich meiner eigenen Erscheinung, vom Angesicht der Erde zu spülen.

Zu diesem Zeitpunkt baumeln meine Füße bereits ganz relaxed vom Rand herunter, denn den letzten Teil habe ich zum Glück nur geträumt. Cocktailschlürfend liege ich in der wohlverdienten Caprisonne. Ich habe gesiegt, wieder gesiegt, ich bin unglaublich gut und weiß das auch. Arglos lausche ich dem leisen Blubbern und Gackern der Hühnerbrühe. Natürlich habe ich dabei eine Sonnenbrille auf.

Dies ist der richtige Augenblick, um die Gedanken schweifen zu lassen, wie ich befinde. Also lasse ich mir schnell einige sehr intelligente und humorvolle Primzahlenreihen durch den Kopf schießen, gerate dabei für einen Augenblick in ein wahrscheinlich leicht apathisch wirkendes Grinsen. Als ich fertig bin, fallen mir noch einige Ungereimtheiten auf, und so verwundert es wenig, dass mich jene mit einer Frage zurücklassen.

Ein Sturm zieht unbemerkt auf und ich merke, wie ein Sturm aufzieht. Es wird Herbst. Ich habe meinen Hunger bereits ganz vergessen, als ich nach hinten wegkippe und durch meinen Zustand erhöhter kinetischer Energie in das Eis einbreche. Prustend wie ein Walroß und behände wie ein Leopard kralle ich mich am Tellerrand fest. Der Tellerrand jedoch gibt nach, zieht den an ihm befindlichen Teller nach und sorgt in seiner Kippbewegung für eine spontane Innen-/Außenraumumstülpung, an deren Ende ich plötzlich am Boden liege. Wie zerronnen, so gewonnen! Ich habe einen neuen Hut aus Porzellan. Die Soße taut langsam aus meinem Porzellanhut heraus und verleiht meiner Haut einen attraktiven perlmuttenen Teint. Meine Zunge lugt nervös heraus, gleitet in einer fast züngelnden Bewegung über Nachbar Lippe und erhascht einige Tropfen des kühlen Elixiers. Mit einem Mal ist die Frage von zuvor vergessen. Lecker!