Die Supermarkttomate

 

Reminiszenz auf ein langes Leben im Beschuß von Kritik und Kunstlicht

Der Supermarkt im Winter ist ein Ort sommerlicher Behaglichkeit. In der Obst- und Gemüseecke herrscht Strandflavour. Wo immer wir hinsehen, nichts als entblößte Knackhintern, formschön, fest und rund; die Hautfarbe ein etwas zu sonnenverwöhntes Rot, welches uns aber gleichwohl sagt, daß hier die Gene stimmen. Sie sind gesund. Natürlich möchte man einmal hineingreifen.

Solange es sich aber bei unseren Tomatenhintern nicht um tatsächliche Tomaten handelt, belassen wir es dann doch meistens bei einem gierigen und zugleich hoffentlich unauffälligen Blick auf die verheißungsvolle Schönheit, während unsere Hände von ganz allein die eine oder andere Tomate befassen und wir unsere Fantasie spielen lassen. Sie liegt gut in der Hand, ist rundherum schön; wir fühlen keine Hautirritationen. Oh, was bist du sexy.

Wichtig bei der Suche nach sexuellen Anreizen in einer anonymen Supermarktsituation ist, sich nicht zum Deppen zu machen. Dies verbietet trotz aller Reizüberschwenglichkeit beispielsweise ein zu festes Zupacken, denn ansonsten hat man ganz schnell den Salat, er liegt gleich nebenan, mit seinem Saft vollgespritzt; eben jenem Tomatensaft nämlich, welcher soeben noch von der nun zerborstenen makellosen Haut zusammengehalten wurde, jetzt aber das verdorbene Innenleben unserer Passion freigibt. Und so ist man nicht nur um einen geplatzten Traum und einen Teil seiner Würde ärmer, sondern hat gleichtzeitig auch nichts verstanden.

Nicht verstanden nämlich, daß die Tomatenauslage mit um die zwei Euro pro Kilo eben kein billiger Porno ist, sondern erstens günstig, zweitens anspruchsvolle Erotik. Daß die mit Servietten ausgelegten Kästen, in denen sich die Früchte räkeln, kein sparsamer Bettbezug sind, sondern samtiger Catwalk. Das Neonlicht an den Decken scheint nur für sie. Wir dimmen das Licht und machen eine Kerze an, weil's romantisch ist und außerdem bald Weihnachten. Wären sie nicht diesen Tick zu schwer, könnte man sie an den Christbaum hängen. Die zwei Wochen, die jener stehen muß, halten unsere Tomaten locker aus. Man könnte sie sogar am ersten Advent schon aufhängen.

Die Longlife-Tomate, vermutlich ursprünglich ein Nebenprodukt direkt aus der Entwicklungsabteilung von Duracel, hält sieben Wochen. Andere Züchtungen geben schon nach maximal drei Wochen auf. Züchtungen wohlgemerkt; hier sind Genmanipulationen am Werk, die auch ohne menschliche Hilfe in Tausenden von Jahren durch natürliche Selektion von ganz allein hätten entstehen können. Frecherweise werden diese der echten laborativ gentechnisch manipulierten Tomate klar unterlegenen Sorten hierzulande nicht nur trotzdem, sondern ausschließlich angebaut und angeboten, und das nur, weil im Handel für exorbitant lange Lagerzeiten »kein Bedarf besteht«. Traurig: wieder einmal wird Fortschritt von Kleinkariertheit und Profitoptimierung ausgebremst. Wenigstens in den amerikanischen Staaten und in britischem Tomatenmark konnte sich hier ein kleiner Markt etablieren.

Kürzer haltbare Züchtungen aus spanischer, italienischer oder anderweitig südländischer Massenhaltung hingegen müssen halbreif geerntet werden, um dann, trotz vermeintlicher »Nachreifung« während des Transports, im hiesigen Supermarkt jung und knackig der Konkurrenz aus dem sonnigen Holland Paroli bieten zu können. Dabei entsteht dann natürlich nicht der Geschmack, den die volle Sonnenreifung erzeugt hätte, aber der ist sowieso nicht so wichtig. Denn abgesehen davon, daß ohnehin jedes beliebige Erzeugerland vertrauenswürdiger erscheint als die Niederlande, die nicht mal eine eigene Automarke haben, sind auch ausnahmslos alle im Selbstbedienungshandel erhältlichen Tomaten weniger Nahrungsmittel denn abstrakte Kunst. Jenes gilt freilich nicht nur für Tomaten, sondern für die ganze Nahrungsmittelindustrie, wie uns das Wort schon selbst zu erkennen gibt.

Tomaten, an denen noch Grünzeug dranklebt, sind hübscher und werden gerne gekauft, weil sie natürlicher dreinschauen oder der leicht giftige Stengel schön duftet. Die Neigung der Kunden zum unreflektierten Selbstbetrug ist seit jeher Vermarktungsmittel Nummer Eins. Schon mal überlegt, warum alle Tomaten auf einem Zweig den gleichen Reifegrad haben? Ja, genau.

Der prominente Ruf der Tomate, bei der wir zwar gerne hingucken, sie aber im öffentlichen Diskurs verachten und im Stillen neiden, nährt sich schon lange nicht mehr aus der Erinnerung an ihren »echten« Geschmack. Stattdessen gehört es zum Allgemeinwissen, daß Tomaten nun mal relativ geschmacksneutrale Früchte sind, weswegen man sie auch gerne mit ähnlich geschmacksneutralem Kuhmilchmozzarella belegt, um an dieser im Fleur de Sel ertränkten Reizarmut dann vergeblich die Geschmacksnerven tot zu trainieren. Der Caprese ist schließlich, irgendwann in den Trend gekommen, vor allem ein Mahl für die Augen (bevor hierzulande der Balsamicoessig dazukam und Optik wie Geschmack gleichermaßen brandschatzte). Und da müssen die Tomaten nun mal entsprechend aussehen. In Wahrheit hat auch keiner ein Problem damit - die Frucht besteht zu 95% aus Wasser; wonach soll sie auch schmecken, wenn nicht nach Wasser? Der Geschmack der Tomate spielt sich im Kopf ab; da spielt das Aussehen nicht nur irgendeine Rolle, sondern die Hauptrolle. Zu solchen Fragen werden Studien durchgeführt. Der Geschmack der Tomate ist ein Luxusthema. Aber wer die Zeit dafür hat und sich den Luxus leisten kann, kann auch gleich beim Biohändler einkaufen gehen.

Biojunkies: Kulturlose Bauern. Die Longlife-Tomate ist ein Kunstwerk. Dr. Longlife ist ein Computerprogramm der Fachzeitschrift Medical Tribune. Man füllt ein paar statistisch verwertbare Informationen aus und bekommt fortan auf dem Desktop den sekundengenauen Zeitpunkt des eigenen Exodus vorausgesagt. Das macht das Leben zwar nicht länger, ist aber schön ulkig. Die Longlife Tomate ist schön befremdlich, wie es ein gutes postmodernes Kunstwerk sein soll, und man rätselt noch, ob sie das Leben nicht sogar kürzer macht.

Die ersten ein bis drei Wochen der Verwesung von Schlachttieren nennen wir Fleischreifung, die Dauer variiert nach Fleischsorte. Bei Rind ist sie am längsten, weshalb sich dieses Tier für den langen Transport von Argentinien nach Deutschland im mobilen Leichenkühlhaus so gut eignet. Dabei lösen sich die Muskelfasern auf und Aminosäuren werden freigesetzt, wodurch das Fleisch erst zart und schmackhaft wird. Einen derartigen positiven Effekt erfährt die zu jung gestorbene Tomate nicht. Wenn diese den Supermarkt erreicht, ist sie einfach nur ein wenig länger tot als zuvor und hat in der Zwischenzeit noch verwesungsbeschleunigende Stoffe abgesondert. Ist aber gesund.

Dieser Artikel ist ALT. Er erschien zuletzt im Kulturmagazin »remède de cheval«.