UN ILLUSTRE INCONNU: Und wenn ja, wieviele?

 

Wer ist Sébastien? Zum einen Immobilienmakler. Zum anderen erfahren wir nicht viel über den illustren Herrn. Er ist quasi unbekannt. UN ILLUSTRE INCONNU (Nobody from nowhere).

Sébastien Nicolas (Mathieu Kassovitz) hat das exzentrischste Hobby. Wenn er eine Wohnung vermittelt, mustern seine Augen den Kunden mit maskenbildnerischer Präzision, auf daß er sich im Anschluß Masken von ihnen bilden kann. Er hat außerdem immer einen Zweitschlüssel zur Wohnung, um die Persönlichkeit des Kunden studieren zu können. Ist dies geschehen und die Maske übergestreift, schickt Sébastien sich an, dessen Leben nachzuspielen - z.B. beim Treffen anonymer Alkoholiker.

Matthieu Delaporte (Regie) treibt seine Narrative durch Beobachtung voran. Es beginnt nahezu dokumentarisch, mit einem interessanten Fokus auf dem technischen Aspekt der Verwandlung, der Maske, ergänzt von Kostüm und Stimme. So wie Sébastien die Menschen studiert, die er darzustellen gedenkt, so werden deren Leben zur momentanen Geschichte des Films. Was es über Sébastien zu lernen gibt, ist ebenfalls reine Beobachtung, denn der Gute erklärt sich nie - bis er in einer seiner Rollen nach sich selbst gefragt wird, der er gerade nicht ist. Er beschreibt sich als langweilig.

Die Rolle ist die des Henri de Montalte, eines ehemaligen Starviolinisten. Er ist die eigentlich illustre Person und die, welche Sébastiens Lebensart dereinst über den Haufen wirft. Denn als Henri gesellt sich eine neue, unvorgesehene Komponente in das Rollenspiel: Ein alternatives Leben als Familienvater, von dem sich H. vor Jahren reuelos abgewandt hat.

UN ILLUSTRE INCONNU verschleiert lange, was Thema, Sinn und Zweck des Ganzen ist. Worauf die Geschichte hinausläuft, bleibt bis zuletzt unabsehbar, und das ist gut so. Tatsächlich eröffnen sich im letzten Drittel des Films gleich mehrere Möglichkeiten, die Chose zu einem stimmigen Abschluß zu bringen. Daß diese trotz fortschreitender Laufzeit nach 118 Minuten weder intellektuelle noch emotionale Einbußen macht, liegt an der Stärke der Ideen und der Charaktere, die in diesem Drehbuch meisterlich verquirlt werden.

Denn anstatt einem klassischen Spannungsbogen zu folgen, ist Interpretation und zuweilen Selbstreflexion gefragt, ohne daß die Moralkeule geschwungen wird. Von einem Off-Kommentar zuviel einmal abgesehen, ist der Ton erfrischend subtil. Klar: Sébastien entdeckt eine ungekannte Wertschätzung für das familiäre Miteinander, und wer nicht innerlich voll verkalkt ist, kann das durch ihn ebenfalls tun. Aber es ist eben nicht dringende Agenda, sondern ein ebenso überraschendes wie willkommenes Nebenprodukt einer skurrilen, fantastischen Geschichte.