ÉVOLUTION: Noppenfetisch

 

Lucile Hadžihalilovic? Nie gehört. Das ist einerseits seltsam, weil ihr jüngstes Werk ÉVOLUTION ein Zeugnis meisterhaften Filmhandwerks ist. Es ist andererseits verständlich, weil sich die Regisseurin seit ihrem weitestgehend unbekannten Erstling Innocence elf Jahre Zeit gelassen hat - ein Umstand, der seinerseits wiederum nicht nur unverständlich, sondern unentschuldbar ist, denn jemand mit einem solchen Gespür für mise-en-scène sollte dringend mehr Filme erzeugen.

Ebenfalls rar gemacht hat sich Hauptdarsteller Max Brebant als Nicolas, weil erste Rolle überhaupt. Der Knabe schlägt sich überzeugend als Insulaner, der eines Tages beim Tauchen die Leiche eines unbekannten Jungen im Korall entdeckt und fortan seine Verstörung nicht abschütteln kann. Für Zuschauende verstörender ist jedoch der Umstand, daß die Insel, auf der Nicolas lebt, sonst offenbar nur von weiteren männlichen Altergenossen und deren blassen Müttern bewohnt wird, die seltsamen Tagesabläufen inklusive Ekeldiät und Experimentalmedizin nachgehen. Dem Naseweis schwant, daß nicht alles normal ist. Verwirrung und Neugier sind die dominanten Gefühlszustände.

ÉVOLUTION ist die Sorte Film, dessen Genuß durch jedes Wort zuviel in seiner Inhaltsbeschreibung entscheidend gehemmt würde, denn ein großer Teil seiner Faszination besteht darin, die immer zunehmende Befremdlichkeit des Settings und seiner Einwohner selbst nachzuvollziehen. Hadžihalilovic läßt sich noch Zeit für Bilder und erschafft einen Mikrokosmos visueller Motive, die in meist ruhigen, streng kalkulierten Einstellungen behände zwischen bestechender Schönheit und körperlichem Ekel umhertänzeln. Ein Seestern wird zerschmettert und erwacht in der Form einer Untersuchungslampe zu neuem Leben. Kleinigkeiten, welche die sparsame Inszenierung beisammenhalten.

Die Kamera von Manuel Dacosse, der eines flüchtigen Blickes auf seine Filmographie zufolge an nichts wichtigem beteiligt war, fängt diese Bilder mit viel Bedacht und Brillianz ein - meditative Unterwasserwelten, triefend alte Wände, ohnmächtige Gesichter gleichermaßen. Dazu gesellt sich eine Stille, welche die verschwörerische Mystik des Insellebens noch zu verstärken weiß und, unterstützt von einem zuweilen bizzar nüchternen Schauspiel, dem sonnigen Schauplatz eine beachtliche Kälte verleiht.

In welcher Weise sich der Titel des Films auf seinen Inhalt bezieht, bleibt eine offene Frage - eine, für deren Beantwortung Hadžihalilovic klare Angriffspunkte bereitstellt, aber keine Endgültigkeit erlaubt. ÉVOLUTION ist zugleich klinischer Body-Horror, potentieller Science Fiction und vor allem aber nachtmahrische Introspektion über die Bedeutung des eigenen Körpers, die Liebe und das Leben sowohl des Individuums als auch an sich. Die üblichen Themen also, verpackt auf eine ganz und gar originelle, abstoßende und zugleich höchst ansehnliche Weise.