AGONIE: Was ist eigentlich Agonie?

 

Viele sind verunsichert, wenn ich diese schwierige Thema anspreche. Keiner lacht. Geekelt schreckt man zusammen, wenn die Knochensäge ertönt. Warum sticht ein Mädel auf ihre Mutter ein? Ö3 Hitradio wird nicht müde, die Frage zu stellen, kennt aber die Antwort nicht. Stattdessen Musik. Christian (Samuel Schneider) hört das. Er ist unzufrieden, weil sein Jurastudium beschissen läuft. Oder ist das überhaupt der Grund?

Filme gaukeln uns vor, uns in eineinhalb bis zwei Stunden mit Charakteren so vertraut zu machen, daß wir deren Leid und Freud nachvollziehen und behaupten können, sie verstanden zu haben. Das ist natürlich völliger Quatsch. Die Erfahrungen, die Momente, an denen wir teilhaben, sind behutsam gefiltert, unsere Perzeption gelenkt, das emotionale Urteil schon vorgeschrieben. Die Rolle des Zuschauers ist die Aufnahme.

AGONIE macht sich spürbar, erklärt sich aber nicht. Sie ist einfach da. Eine Darstellung des Zustands fällt leicht. Alex (Alexander Srtschin) beispielsweise ist reizbar, hört Hiphop und disst seine Ex in eigenen Rhymes. Die alte Schlampe. Ein Gewaltpotenzial ist gegeben. Der klassische Unterschichtenversager, der sich seine homosexuellen Neigungen nicht eingestehen kann. Mit dem Vater gibt es auch nur Zoff. Das reicht doch als Charakterisierung?

Die gesamte Geschichte des wie-konnte-es-nur-soweit-kommen paßt natürlich nicht die Laufzeit eines Films; soll sie auch nicht. Wir sollen Alex nicht verstehen müssen. David Clay Diaz entzieht sich in seinem Langfilmdebüt nicht den Erklärungen, sondern macht die Unerklärbarkeit zum Konzept. Ganz explizit der Verweis gleich zu Beginn, wie in der Motivfrage - Kontext Mord - Rat und Tat abhanden gehen. Ein Fall von familiärer Gewalt ist ständiges mediales Hintergrundrauschen im bedrückend freudlosen Leben der Protagonisten. Wenn Christian seine neue Freundin nach allen Regeln des Maschinenbaus durchnimmt, darf man sich schon fragen, warum sie es sich ausgerechnet von ihm besorgen läßt. Vielleicht, weil er zumindest von außen nicht komplett häßlich ist.

Alex und Chrtistian, die zwei Charaktere, die hier erzählt werden, laufen sich nicht über den Weg. AGONIE ist nur der thematische Brückenschlag, darüber hinaus sind hier lediglich zwei mittellange Filme abwechselnd ineinandergeschnitten. Um das auch ganz klar zu machen, liegen zwischen ihren Szenen jeweils stille, schwarze Sekunden. So stur ist diese Trennung, daß seltenen Momenten der Überblendung, des fortlaufenden Soundtracks, besondere Auffälligkeit und Wichtigkeit zuteil wird. So wird auch dem geringfügig Kinophilen klar, daß jetzt die Emotion im Busch lauert. Handwerklich ist der Film also zur Abnahme bereit, nur Funfaktor darf man wie immer bei so Betroffenheitskunst natürlich nicht erwarten.

Als Charakterportrait ist AGONIE unvollständig, ein gewollter Schnappschuß und damit nicht so ungewöhnlich, wie es das Getöse im Programmheft eines Filmfestivals glauben lassen mag. Muß es auch gar nicht. Aus der Gegenüberstellung seiner beiden Geschichten tritt Gefühl, Thema und Titel klar und präzise heraus. Sales Pitch erfüllt.