AVANT LES RUES: Vor der Reue ist nach der Reue

 

Die erste, lange Einstellung zeigt Shawnouk (Rykko Bellemare) und seine Schwester Kwena (Kwena Bellemare-Boivin), die in kanadischer Abgeschiedenheit ein Ständchen ohne Publikum geben. Es ist der traditionelle Gesang ihres Volkes, der Atikamekw, den beide Darsteller, eigentlich Sänger und Tänzer, auch tatsächlich sehr überzeugend praktizieren. Alle sind sehr froh, sehr stolz, in Berlin zu sein, ihre Sprache und ihre Lebensart im Film konserviert und publiziert zu sehen.

Für den Ausgangspunkt der Handlung spielt die ethnische Verortung indes keine Rolle: Der törichte Shawnouk läßt sich zu einem Einbruch überreden. Als der Hausbesitzer überraschend heimkehrt, kommt es mit dem gewaltbereiten Komplizen zum Scharmützel, ein Schuß, ein Toter. Der verstörte Shawnouk flieht in den Wald.

Was folgt, ist ein wenig solitäre Schuldverarbeitung, ein wenig Familiendrama und schließlich auch noch ein wenig Volkstümlichkeit in einer Art esoterischer Selbsthilfegruppe tief im Wald, dort, wo die Straßen aufhören. Viel geredet wird nicht, weil die Atikamekw nun mal so sind. Was es sonst noch über jene zu lernen gibt: Tabak gilt als Gastgeschenk, Bäume töten hilft der Seele. Sonst nix. Man lebt in einem Reservat, eine Wohnsiedlung aus öden, tristen Zweietagenhäusern, ein bißchen wie ein US-amerikanisches Suburb ohne den spießbürgerlichen Heile-Welt-Kitsch, umgeben von Erdhaufen, die aus glatter Fläche ragen. Die Kamera fängt die Häßlichkeit in statischen Weitwinkeln und wackligen Closeups ein.

Handwerklich ist das nicht gepatzt, aber wenig einladend. Wie so soft im na(t)iven Kino verfolgt auch Chloé Leriche in ihrem Erstling einen trocken-faktischen Inszenierungsstil. Pathos durch Musikuntermalung und ähnliche Manipulationstaktiken sind Fehlanzeige. Das wäre auch verkehrt, denn die Musik kommt ja wie gesagt aus Shawnouk und Schwester. Die beiden machen das wirklich sehr gut.

AVANT LES RUES ist eine kleine, simple Geschichte, die ihren dramaturgischen Antriebspunkt - die Flucht nach erfolgtem Totschlag - nie zu einer höheren moralischen Dialektik extrapoliert. Auf gut deutsch: Was gewesen ist, ist gewesen. Was Shawnouk gewesen war, bevor er zum renitenten Kleinkriminellen degenerierte, bleibt verschwiegen. Der Bub, der sich in seiner Suche nach Sühne vor seiner Umwelt verschließt, verschließt sich eben auch der Möglichkeit, seinem Leidensweg mit emotionaler Teilhabe zu begegnen. Trocken, faktisch warten wir darauf, daß Shawnouk wieder singt.